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Kurzstrecke |
Tagesspiegel Checkpoint vom Mittwoch, 09.11.2022 | Stark bewölkt bei 16°C. | ||
+ 33 Jahre nach dem Mauerfall: Frau sucht Kitafreund + Hohe Beteiligung bei Zwischenwahlen in Amerika + Zwillingsschwester der überfahrenen Radfahrerin meldet sich zu Wort + |
von Robert Ide |
Guten Morgen, jeder Tag ist für jeden Menschen ein Schicksalstag. An manchen Tagen aber bündeln sich schicksalhafte Geschichten zur Geschichte eines ganzen Landes und unserer wieder ganzen Stadt. Der 9. November erinnert uns daran, was Berlin und Deutschland alles sein kann: Geburtsstätte von Demokratie und Diktatur, als am 9. November 1918 zwei Republiken ausgerufen wurden – eine bürgerliche und eine sozialistische. Das Ende der Kaiserzeit markierte die Geburt der Weimarer Republik und den Beginn der legendären Zwanziger Jahre in Berlin. 20 Jahre danach wurde Deutschlands Hauptstadt zur Heimstatt des Hasses und des Terrors, als am 9. November 1938 bei der Reichspogromnacht systematisch jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger verfolgt und getötet, Geschäfte und Synagogen von Nationalsozialisten in Brand gesetzt und zertrümmert wurden. Von vielen ermordeten Nachbarinnen und Nachbarn ist uns nur die Erinnerung geblieben – erkennbar an den Stolpersteinen, die es im Stadtbild zu bewahren und besonders heute zu pflegen gilt. Nach den Pogromen ging von Berlin ein Europa zerstörender Krieg aus, der Millionen Tote forderte und bleibende Wunden in die Stadtgeschichte schlug. Eine weitere Diktatur später fiel am 9. November 1989 die Mauer zwischen Prenzlauer Berg und Wedding, zwischen Deutschland und Deutschland, zwischen Ost- und Westeuropa. Seitdem ist Deutschland frei, vereint, souverän und demokratisch. Dass dies so bleibt, ist kein Schicksal – so wie es Geschichte auch nie ist. Gegenwart und Zukunft liegen in unseren Händen. Nicht nur am 9. November. | |||
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Berlins Vereinigung in Freudentränen in der glücklichsten Nacht dieser Stadt erlebte ich auf der Bösebrücke an der Bornholmer Straße. Mit 14 lief ich mit meinen Eltern und meiner Schwester an der Hand in die Freiheit auf der anderen Seite der Gleisanlagen – auch wenn sich uns der goldene Westen zunächst nur mit abblätternden Altbauten im Arbeiterkiez am Gesundbrunnen präsentierte. Dass an dieser Brücke zwischen den Welten in den Jahrzehnten zuvor vier junge Menschen für den Traum eines freien Lebens getötet worden waren und dass auch mancher Fluchtversuch auf spektakuläre Weise gelang, das habe ich erst vor kurzem herausgefunden. Wie die Geschichte von Hans-Dieter Wesa: Der 19-jährige Transportpolizist hat bei seiner Flucht im August 1962 schon die westliche Seite erreicht, als ihn ein Schuss seines Wachkollegen, mit dem er immer Streife gelaufen war, tödlich in den Rücken trifft. Oder die Geschichte eines 26-jährigen Hausmeisters und eines 24-jährigen Hilfsmaurers aus Prenzlauer Berg: Im September 1986 überwinden sie mit Leitern aus den Bornholmer Gärten den Steinwall zum Grenzübergang. Ein Signalzaun ist defekt, der Wachturm kurzzeitig nicht besetzt. Unerkannt gelangen sie in die weiträumige Grenzstelle Bornholmer Straße und laufen über die Brücke in den Westen – auf dem für Diplomaten reservierten Durchgang werden sie vor der letzten Grenzlinie nicht mehr kontrolliert. Es sind Geschichten wie diese (nachzulesen hier), die zeigen wie viel Geschichte in unserer Stadt steckt. Und dass wir diese niemals vor uns selbst verstecken dürfen. | |||
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Da wir gerade beim Finden unserer gegenwärtigen Vergangenheiten sind: Susann sucht Basti. Zusammen gingen beide in den Kindergarten Pünktchen in Hennigsdorf, zwischen 1986 und 1989 muss das gewesen sein. „Von uns gibt’s ein Foto, du verkleidet als Katze, ich verkleidet als Sterntaler“, schreibt die heute 38-Jährige in einem vielfach geteilten Twitter-Aufruf. Auch hinter Susanns Kitasuche steckt eine spannende Mauerfall-Geschichte, denn am 8. November 1989 packten ihre Eltern den Trabi voll, fuhren zu Verwandten ins Erzgebirge und flohen von dort über Tschechien in den Westen – einen Tag vor dem Mauerfall. Susanns Vater sollte in der DDR nur seinen Meisterbrief als Koch machen dürfen, wenn er in die Staatspartei SED eintritt; auch Susanns Mutter hatte genug. Die Familie fasste wie so viele Ostdeutsche einen Entschluss: Wir hauen hier ab. Viele dieser Menschen fehlen dem Osten bis heute. „Ich kann mich noch erinnern, wie ich als Fünfjährige irgendwo in einem fremden Aufnahmelager aufgewacht bin“, erzählt Susann am Checkpoint-Telefon. Ihre erste Frage an die Eltern lautete: „Wann fahren wir wieder nach Hause zu Basti?“ Nun, 33 Jahre später, soll sich Bastian (wie er wohl wirklich heißt), bei Susi (wie sie damals genannt wurde) melden. Die Kita in Hennigsdorf gibt es noch, sie heißt jetzt Pünktchen und Anton. Ob die Erzieherin Frau Hase (oder Haase) noch lebt, weiß niemand. „Das Faschingsfoto von uns Kindern ist irgendwo auf dem Dachboden meiner Eltern“, erzählt Susann, die inzwischen in Augsburg wohnt und als Krankenschwester im Hospiz arbeitet. „Wenn sich Basti meldet, suche ich das Foto für ein Wiedersehen raus“, verspricht sie. Falls Sie, liebe Leserinnen und Leser, das auch sehen möchten, dann helfen Sie Susi und Basti durchs Verbreiten ihrer Suche beim Sich-finden – und senden uns bitte Hinweise an checkpoint@tagesspiegel.de. Denn in unserer Vergangenheit steckt immer ein besonderes Geheimnis: wir selbst. | |||
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Und diese Geschichten zum deutschen Schicksalstag haben mich beim Erzählen und Hören, Schreiben und Lesen auch berührt: - Wie die Hoffnung in Neukölln starb: Ein historischer Podcast zeigt die Verstrickungen des proletarisch geprägten Berlins in den Holocaust. Die Synagoge in Neukölln wurde in der Reichspogromnacht zerstört; im Bezirk wurden Gaswagen zur Vernichtung von Menschen gebaut. - Hoffnungslos verliebt am Strand: Sie aus dem Osten, er aus dem Westen – in Bulgarien stehen ihre Zelte zufällig nebeneinander. Sie knutschen im Sand, dann müssen beide zurück in getrennte Welten. Wie sollen Gitte und Gerd je zusammenkommen? Eine wahre deutsch-deutsche Liebesgeschichte - Tag der Hoffnung und der Trauer: Demokratie, Holocaust, Freiheit – die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in einem einzigen Gedenktag. Wie drückt sich die komplexe Spannung des 9. November im öffentlichen Gedenken aus? Ein Zwischenruf des Historikers Andreas Rödder | |||
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Schicksalhafter Tag auch für Amerika und damit für die Welt: Die Zwischenwahlen in den zerspaltenen USA sind auch zur Abstimmung über die Demokratie geworden, und schon vor der Auszählung aller Stimmen wird das Spaltende noch sichtbarer: Viele Bürgerinnen und Bürger haben ihre Skepsis angekreuzt – mit Stimmen für republikanische Politikerinnen und Politiker, die die letzte demokratische Wahl nicht anerkennen. Doch die vergleichsweise starke Wahlbeteiligung, sichtbar an 45 Millionen Briefwahlstimmen und vielen langen Schlangen vor den Wahllokalen, könnte den Demokraten in dem knappen Ringen um die Parlamentssitze doch noch helfen (Live-Blog hier). Zwischenwahlen-Zwischenstand um 5 Uhr deutscher Zeit: Alles bleibt offen, auch das Hoffen. Dazu die morgendliche Checkpoint-Einschätzung aus dem nächtlichen Amerika von unserer US-Korrespondentin Juliane Schäuble: „Die Welt ist hier längst nicht untergegangen. Viele junge Menschen sind zur Wahl gegangen, so dass die Key Races nicht mit dem Abstand entscheiden worden sind, wie es sich die Republikaner erhofft haben. In Virginia etwa liegen die Demokraten bei zwei von drei wichtigen Rennen derzeit vorn. Und die ganz irren Kandidaten rund um Donald Trump scheinen nicht zu gewinnen. Für den wichtigen Senat droht nun eine Hängepartie, besonders in Georgia. Hier könnte erst eine Stichwahl am 6. Dezember entscheiden. Und Amerika müsste wieder warten – Georgia on my mind.“ | |||
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Auf den falschen Zettel hat es auch Andreas Lorenz erwischt. Der langjährige Berliner, der jetzt in Kaiserslautern wohnt, war vor kurzem in seiner alten Heimatstadt zu Gast und lernte sie von einer ihm unbekannten Seite kennen: der peniblen. Weil er seinen Suzuki Swift Hybrid ohne für die in Berlins Innenstadt vorgeschriebene Umweltplakette in Moabit geparkt hatte, erhielt er ein Ordnungsgeld. Lorenz entschuldigte sich für seine Nachlässigkeit, reichte seine am nächsten Arbeitstag in Kaiserslautern gekaufte Plakette für seinen Kleinwagen nach und bat: „Lassen Sie Gnade mit einem ’Touri‘ walten.“ Dazu der mündliche Bescheid des Ordnungsamts Mitte: „Könn‘se ja schreiben, dass es ein Versehen war, hilft Ihnen aber nüscht.“ Dazu der schriftliche Bescheid des Ordnungsamts Mitte: „Ihre Einlassung konnte sie nicht entlasten.“ Lorenz hält das für „Abkassieren bei unachtsamen Berlin-Besuchern“ aus angeblichen Umweltschutzgründen, selbst wenn sie schadstoffarme Autos fahren, und bietet nun an: „Wenn das Geld erlassen wird, spende ich es für einen wohltätigen Zweck.“ Mal sehen, ob das noch Zweck hat. Sinn würde es zumindest machen. | |||
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Nun noch nachdenkenswerte Worte der Zwillingsschwester der von einem Betonmischer an der Bundesallee totgefahrenen Radfahrerin. Anja Umann appelliert an die Berliner Politik, gefährliche Stellen im Straßenverkehr „generell im Sinne der Radfahrer zu überdenken, um Unfälle zu reduzieren“ (via „Spiegel“). Klimaaktivisten, die mit ihren Protestaktionen potenziell auch lebenswichtige Rettungseinsätze aufhalten, bittet die 44-Jährige, zu hinterfragen, „ob es nicht vielleicht doch einen anderen Weg gibt, für das Überleben unseres Planeten zu kämpfen, ohne dass andere Menschen möglicherweise zu Schaden kommen“. Die Ziele der Bewegung hätten sie und ihre Schwester geteilt, jedes Mittel aber nicht. Anja Umann muss nach dem schrecklichen Unfall nun ohne ihre Zwillingsschwester weiterleben: „Sie ist meine Welt gewesen, so wie ich ihre Welt war.“ | |||
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