 | | |  | | 21. März 2025 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | manchmal, wenn ich in einem Buchladen herumstöbere, kommt eine Verkäuferin, die nicht immer eine Buchhändlerin ist, und fragt mich: âSuchen Sie etwas?â Meine Standardantwort auf diese Frage lautet: âNein, aber vielleicht finde ich etwas.â Finden, ohne zu suchen, gehört zu den angenehmen Erfahrungen im Leben, in dem es so viele unangenehme Erfahrungen gibt. Der englische Schriftsteller und Politiker â ja, diese Kombination gab es früher mal, und sage jetzt bitte niemand: aber Robert Habeck â¦? - Horace Walpole, geboren 1717, erfand für das glückliche Zusammentreffen von Nichtgesuchtem und dann doch Gefundenem das schöne Wort serendipity. Es geht zurück auf ein altes Märchen, in dem drei Prinzen aus Serendip, später Ceylon, heute Sri Lanka, auf Reisen Dinge finden und Erlebnisse haben, die ihnen bisher im positiven Sinne des Wortes âunerhörtâ waren.
Irgendwelche Doofnickel haben für serendipity das angeblich deutsche Fremdwort âSerendipitätâ geprägt, was bestimmt kein aktiv glücklicher Zufall beim Finden eines Worts war, sondern einen jener Begriffe produzierte, mit denen Kommunikationscoaches in Meetings Menschen foltern. Irgendwann werde ich noch das groÃe fiktionale Sachbuch darüber schreiben, wie Klebezettel, Beratungsfirmen, Prozessplanung, Whiteboards und Turnschuhe das Abendland ruinieren. Andererseits ist mirâs auch wieder wurscht, weil ich an diesem Zeug nicht mehr teilnehmen muss. Ãlterwerden hat nicht viele, aber doch einige Vorteile.
Als ich dieser Tage mit serendipity-Neigung in meiner Bibliothek, also den vielen Billy-Regalen, herumlas, stieà ich auf ein Dichten-und-Trachten-Bändchen. Der heilige Suhrkamp-Verlag gab zwischen 1952 und Ende der Sechzigerjahre kleinformatige, nicht dünne Broschüren von 80 oder 100 Seiten heraus, in denen er Neuerscheinungen ankündigte und Leseproben abdruckte. Die Dinger hieÃen âDichten und Trachtenâ. Das klang gebildet, und auÃerdem steht im 1. Buch Mose: ââ¦alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdarâ. Der Humor des frühen bundesrepublikanischen Feuilletons nannte die Reihe âDirndl und Trachtenâ. Im vergilbten Band 18 aus dem Herbst 1961 fand ich einen Auszug aus Uwe Johnsons âDas dritte Buch über Achimâ.
Wer es kennt, weiÃ, warum die, die es nicht kennen, es auch heute noch lesen sollten, obwohl die âdeutsche Frageâ beantwortet zu sein scheint, was sie in mancherlei Hinsicht nicht ist. Allerdings ist die âdeutsche Frageâ, mit der sich Johnson auf seine Weise immer beschäftigt hat, heute eine andere, als sie das 1961 war. Damals ging es darum, ob es zwei Staaten, aber eine Nation geben kann, und was diese Nation in zwei miteinander nahezu verfeindeten Staaten denn noch Gemeinsames â auÃer ihrer Geschichte â habe. Heute hat sich â ganz ohne Mauer und Stacheldraht â die Kraft der Ungemeinsamkeiten in nur einem deutschen Staat so vergröÃert, dass man sich fragen kann, welche Rolle die Nation, als deren Organisationsform der (National-)Staat gilt, überhaupt noch spielt. Und was diese Nation eigentlich im Jahre 2025 ist.
Am Ende des Auszugs aus Johnsons Buch las ich in âDichten und Trachtenâ, dass die Süddeutsche Zeitung sich âzu dem ungewöhnlichen Schritt entschlossenâ habe, das Buch âin ihrem Wochenend-Feuilleton ungekürzt abzudruckenâ. Also wenn dieser Fund nicht, Verzeihung, ausgesprochen serendipitisch ist, dann weià ich nicht, was serendipity ist. Das ehemalige SZ-Wochenend-Feuilleton, das Johnson druckte, hat sich mit der Zeit â oder sollte man schreiben: wie die Zeit â zu einer besonderen Abteilung der digitalen und der gedruckten Zeitung verändert. Das Selbst, aber auch der Auftrag dieser besonderen Abteilung definiert sich über Substantive wie Liebe, Gesellschaft oder Wohnen. Das ist gut, weil jeder und jede lieben möchte und wohnen muss, manche auch umgekehrt. Literatur wird in kaum mehr einer Zeitung abgedruckt, schon gar nicht ungekürzt, auch wenn man manchmal, natürlich fast nie in der SZ, den Eindruck hat, man sähe nicht wenig Ungekürztes, wenn auch nicht Literarisches. Die Zeit ist über den Abdruck von Literatur in Zeitungen hinweggeeilt. Noch halten gedruckte Bücher die Stellung gegen E-Books, Streaming und Podcasts.
Ich will jetzt keine Trauerrede auf den Zeitungsroman halten, nicht nur, weil zu dessen besten Zeiten auch sehr viel Mist in Fortsetzungen veröffentlicht worden ist. Andererseits erschienen Dostojewskis âDer Idiotâ, Dumasâ âDie drei Musketiereâ oder Remarques âIm Westen nichts Neuesâ zuerst in Zeitungen beziehungsweise Zeitschriften. Das ist interessant und für Literatur-Sammler schwierig, weil man diese Form der Erstausgabe, den Roman in alten Zeitungen, praktisch nirgends mehr kriegt. Zeitungen hebt man nicht auf, auch wenn Tolstoi oder Oscar Wilde darin abgedruckt waren.
Jedenfalls geht es dem Zeitungsroman heute so wie den Telefonzellen oder den Manschettenknöpfen: im Aussterben begriffen. Es gibt diese schöne Zeile in âDiamonds and Rustâ, dem Lied aus dem Jahr 1975, in dem Joan Baez über ihre verflossene Liebe zu Bob Dylan singt: ten years ago / I bought you some cuff links, vor zehn Jahren habe ich dir Manschettenknöpfe geschenkt. Klingt melancholisch, aber sehr vergangen. Welcher junge Mensch verstünde heute Manschettenknöpfe als ein Zeichen der Liebe?
Als Gelegenheitsautor warte ich nun ab, welches Schicksal diese Kolumne nehmen wird. Ist ja auch eine Art Zeitungsroman, eine Telefonzelle, ein Manschettenknopf.
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