Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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12. Mai 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
irgendwann in den letzten zwanzig Jahren begann die große Karriere des Wortes „Fehlerkultur“. Es handelt sich dabei eigentlich um eine Heirat zweier sehr unterschiedlich besetzter Begriffe: Ein Fehler ist etwas Negatives, man hat etwas gemacht, was man nicht hätte machen sollen, und wenn es blöd geht, dann entstehen aus einem Fehler kleine Katastrophen oder große Unglücke. Gleichzeitig hat das vom oder von der Fehlenden ausgesprochene Wort auch irgendwie exkulpativen Charakter. Wenn einer sagt: „Das war ein Fehler“, schwingen in diesem Satz oft Eingeständnis (gut), Ehrlichkeit (gut) und Lernfähigkeit (gut) mit. Wenn, nur so ein Beispiel, Robert Habeck sagt: „Das war ein Fehler“, dann wünscht man sich als empathischer Mensch manchmal, er würde noch einen Fehler machen (oder verantworten), weil außer einem schuldbewussten Jungwaschbären niemand sonst so zerknirscht niedlich schauen kann, wenn er sich selbst bezichtigt.

Anders als das Wort „Fehler“ ist „Kultur“ positiv besetzt. Der Wortstamm ist, wie schwäbische Zwölftklässler und bremische Doktoren wissen, das lateinische colere, das für pflegen, bebauen und ähnlich angenehme, lebenserhaltende Tätigkeiten steht. Schon der alte Cicero sprach von der cultura animi, der Pflege des Geistes. Immanuel Kant nannte seinen kategorischen Imperativ – in einfacher Sprache: Handele so, dass alle so handeln könnten wie du – eine „Idee der Moralität“, die „zur Kultur“ gehöre. Kultur also ist gut, schön und nötig.

Fehlerkultur ist Yin und Yang in einem Wort, Beatles und Stones in einer Band, K.I.Z. und Chris Ares auf einer Bühne, Spiegel und Bild in einer Redaktion (na ja, Letzteres ist nicht mehr so gegensätzlich, man kann jetzt den ehemaligen Bild-Chef im Spiegel lesen). Jedenfalls besteht in manchen Milieus der postheroischen Empfindungsgesellschaft ein weitgehender Konsens darüber, dass man Fehler ruhig machen kann, wenn man sie hinterher nur zugibt. Wichtig ist außerdem, dass man Betroffene – und wer ist heute nicht von irgendwas betroffen? – um Entschuldigung bittet, weil auch das unbedingt zur Fehlerkultur gehört. Fehlerkultur ist mittlerweile außerdem ein „Führungstool“ geworden. Jede sensible Chefin, jeder fühlende („Fühlen ist das neue Führen“) Geschäftsführer wird im Preptalk zur Wer-sind-wir-Führungskräftekonferenz darauf hinweisen, dass es nicht schlimm sein darf, Fehler zu machen, wenn man – tatatata – aus ihnen lernt.

Wer das Wort Fehlerkultur benutzt, tut das oft nicht unbedingt, um über die eigenen Fehler zu sprechen. Es ist vielmehr ein rhetorischer Ausflug zu jenen, die eben Fehler nicht pflegen, sie vertuschen wollen, irgendwie schlechtere Menschen sind. Das Verb „vertuschen“ zur Beschreibung, wie es die anderen machen, gehört zur Grundausstattung der Fehlerkulturisten. Es ist ebenso wichtig wie gegenwärtig das Verb „verschlafen“. In Talkshows, Tweets und anderweitigen Kommentaren wird unablässig festgestellt, fast alle Parteien, Politikerinnen, Vorstände und sonstige Wichtigs hätten irgendetwas „verschlafen“. In den letzten drei, vier Jahrzehnten muss das herausragende Merkmal nahezu aller Verantwortungsträger und Innen eine Art Schlafkrankheit gewesen sein. Man kann nur froh sein, dass es jetzt so viele gibt, die heute erkennen, wie tief alle anderen außer ihnen doch geschlafen haben. Mal sehen, ob die Schlaferkenner von heute in zwanzig Jahren dann als die Schlafenden der Vergangenheit identifiziert werden.

Der führende Fehlerkulturist Robert Habeck sagt, er möchte gern ein Politiker sein, der Fehler zugibt. Sein babyboomerischer Kollege Jürgen Trittin ist da aus anderem Holz geschnitzt; er redet nicht über Fehler, sondern über eine Kampagne gegen die Energiewende. Es wäre noch zu recherchieren oder zumindest philosophisch zu assoziieren, ob der ehemalige Minister Trittin früher auch zu den Schläfern gehörte oder ob eine solche Behauptung Teil einer klammheimlichen Kampagne gegen die ist, die schon immer wach waren.

Ich befürchte, dass im bayerischen Landtagswahlkampf die Fehlerkultur keine große Rolle spielen wird. Gerade wurde per 100-Prozent-Akklamation Söder Jong-un zum CSU-Spitzenkandidaten ausgerufen. In Korea steht der Nachname vor dem Vornamen, was so ähnlich ist wie in Bayern, wo es auch heißt: Aiwanger Hubert. Jong-un wiederum bedeutet „erster Sohn“, was Söder auch ist. Erste Söhne werden in Korea und in Bayern gerne mit hundert Prozent zu etwas berufen.

Jedenfalls wird in Bayern am 8. Oktober gewählt, und man möchte gerade Wölfen und Bären raten, nicht den Fehler zu machen, vorher nach Bayern zu kommen. Mutmaßlich kennt der Wolf genauso wenig wie Söder Erster Sohn die moderierende Bedeutung einer praktizierten Fehlerkultur. Der Wolf würde nicht sagen: „Es war ein Fehler, nach Rosenheim zu kommen, ich bitte um Entschuldigung.“ Söder hat unlängst auf einer bayerischen Wiese erklärt: „Der Wolf gehört hier nicht her.“ Als Bayer schämt man sich ein bisschen für einen fränkischen Ministerpräsidenten, der einen oberbayerischen Trachtenhut aufhat und eine Kriegserklärung gegen die ungefähr 25 Wölfe, fünf Rudel, ausspricht, die (noch) in Bayern leben. Söders Kabinett besteht aus 18 Leuten, also zwei CSU-Rudeln und einem Freie-Wähler-Rudel. Kein Wolf würde sagen: Dieses Kabinett gehört hier nicht her.

Manchmal wäre ich gern ein Wolf, der sprechen kann.
Kurt Kister
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Wer aus den Fehlern der Pandemie lernen will, müsste die Tücken der Rückschau reflektieren. Die meisten Menschen aber wollen vor allem: recht gehabt haben.
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