Liebe/r Leser/in, ich sah sie oft, wenn wir unsere Kinder abholten. Ein Gruß, ein Lächeln, irgendwann Spielplatzbesuche, Eisdiele, alles nett – bis ich eines Tages diese merkwürdig verhuschten Sätze bemerkte. „Mist, so spät, er wird sauer werden!“ Oder: „Gestern ging nicht, ich sollte aufräumen.“ Worte wie versehentlich verlorene Zettelchen. Ich hatte sie kennengelernt als selbstbewusste, starke Frau. Und ihn als hochintelligenten, gut aussehenden Typen. Wohlerzogene Kinder, wunderbare Wohnung, Bildungsbürgerbilderbuchidylle. Wird schon alles okay sein, sagte ich mir. Oder … nicht? Vor vier Wochen nahmen zwei außergewöhnliche Menschen Kontakt zu uns auf. Iris Brand und Anna Sophie Herken, selbstbewusste, starke Frauen auch sie und eigentlich mit allen Geschenken eines erfolgreichen Lebens gesegnet – wären da nicht die Erinnerungen. Bilder aus einer Zeit, als ihre Partner zu Tätern wurden. Und sie selbst schwankten zwischen Angst und Sehnsucht und Wut und Scham. Als sie zur Dritten wurden. Eins … zwei … Jede dritte Frau in Deutschland erfährt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt. Alle 45 Minuten erleidet eine Person durch ihren Partner Machtmissbrauch, Isolation, Willkür, Schläge, Angst um das eigene Leben und das der Kinder. In allen gesellschaftlichen Schichten. Werden sie gehört? Wird ihnen geglaubt? Was tut der Staat, um die Istanbul-Konvention, die 2011 versprach, „Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen“ – was tut unsere Gesellschaft, um diese Selbstverständlichkeit umzusetzen? Dies ist keine Geschichte für ein Geschlecht. Im Gegenteil. Häusliche Gewalt ist weder ein Frauenthema noch privat, sie ist ein fundamentales Problem unseres Alltags, das wir beschweigen. Als ginge es uns nichts an. Gehören ja immer zwei zum Streit. Ist doch deren Ding … Anna Sophie Herken und Iris Brand haben zusammen mit Sarah Bora, Stefanie Knaab und Vivien Kraft entschieden, dass Gewalt niemals „deren Ding“ ist. Dass sie die Gleichgültigkeit nicht länger hinnehmen. Ihrer Initiative #DieNächste haben sich mehrere Dutzend Frauen angeschlossen, die in dieser FOCUS-Ausgabe ihr Schweigen erstmals brechen. In den vergangenen Wochen haben die Reporterinnen Anja Maier, Lara Wernig und Phillipka von Kleist jede der 45 Frauen interviewt, viele Stunden lang. Was sie hörten, machte sie traurig, fassungslos und „wütend darüber, dass diesen Frauen so grausame Dinge angetan wurden und ihr Umfeld und das Rechtssystem oft nur mit Misstrauen und Schulterzucken reagierten“. Bis zum Moment der Drucklegung war zu spüren, wie groß die Sorge vor den Tätern und gesellschaftlicher Verurteilung bei vielen ist – aber ihre Kraft ist größer. „Ich habe mir vorgenommen, nie mehr wegzuschauen, auch wenn das unangenehm werden könnte“, sagt Anja Maier. Damals habe ich irgendwann die Frau auf die Merkwürdigkeiten angesprochen. Und dann eine Anwältin angerufen. Und nach einer Wohnung für sie gesucht. Doch sie zögerte, und ich verlor schnell die Geduld. Heute weiß ich: Gewalt ist nie privat, der Weg daraus ein Kraftakt, der Zeit braucht – und unsere Unterstützung. |