Liebe/r Leser/in, gut so. In den USA ist jetzt ein Gedicht verboten worden. Nein, halt. Es ist nicht überall in den USA verboten worden. Das Verbot gilt in Florida. Und, um ehrlich zu sein, verboten ist das Gedicht auch lediglich in einer Schule in Miami. Im Bob Graham Education Center haben sich zwei Eltern darüber beklagt, dass das Gedicht „The Hill We Climb“ von Amanda Gorman im Unterricht gelesen wird. Die beiden Beschwerdeführer halten dieses Gedicht für gefährlich. Deshalb ist jener Text, den Gorman am 20. Januar 2021 zur Amtseinführung des Präsidenten Joe Biden vorgetragen hatte, jetzt für die dortigen Schüler tabu. Nicht für alle Schüler – aber immerhin für die Grundschüler. Sie kennen das Gedicht vermutlich. Vielleicht ist es nicht das beste Gedicht – aber es gehört zu den berühmtesten. Amanda Gorman, diese wundersame, zarte und entschlossene Person, trug es den Augen und Ohren der Welt vor. Ihre Worte und Gesten verzauberten die Zuhörer rund um den Capitol Hill in Washington, sie berührten eine Nation. Die Erde stand still und lauschte. Bis die junge Poetin die letzten Worte des Gedichts gesprochen hatte. „For there is always light / If only we’re brave enough to see it / If only we’re brave enough to be it.“ Danach, auch daran erinnern Sie sich vielleicht, begann sich die Erde sogleich wieder zu drehen. Manches wurde besser, manches blieb beim Alten. Und die Worte Gormans waren längst verhallt und verweht. Jetzt ist also ein Verbot gegen sie verhängt worden. Nicht weltweit. Aber immerhin gilt es in einer Schule in Südflorida. Für die ersten Klassen. Auch wenn sich Amanda Gorman entsetzt zeigt und gegen das Verbot klagen will – ich finde es gut. Ja, ich bin begeistert. Zwei Eltern des Bob Graham Education Center halten dieses Gedicht für gefährlich. Sie glauben, dass von diesem Gedicht eine Wirkung ausgeht. Sie fürchten, dass die Worte eines Gedichts ihre Kinder beeinflussen können. Sie glauben, dass die Worte eines Gedichts die Welt verändern. Und nicht nur das. Die Schulleitung des Bob Graham Education Center teilt diese Befürchtung. Deswegen verbietet sie das Gedicht. Nun ja, sie verbietet das Gedicht nicht. Sie geht dagegen vor. Weil sie dieses Gedicht ernst nimmt. Und genau das finde ich großartig. Wir wissen jetzt: Es gibt Menschen, die Gedichte ernst nehmen. Es mögen wenige sein. Sie mögen im Süden Floridas leben und ansonsten nur Cheeseburger und Donuts mümmeln. Aber es sind Menschen, die an die Macht des Gedichts glauben. Was ist, wenn sie recht haben? Was ist, wenn die Verse von Sappho, Hölderlin, Baudelaire, Dickinson und all den anderen tatsächlich etwas bewirken? Was ist, wenn ihre zarten und luftigen Zeilen die Kraft haben, alles zu verändern? Eichendorff jedenfalls verkündete, die Welt hebe an zu singen – man müsse lediglich das „Zauberwort“ treffen. Benn erklärte das dichterische Wort gar zum „Flammenwurf“ und „Sternenstrich“. Was ist, wenn Gedichte Gefahr bedeuten? Nun, Sie wissen jetzt, an wen Sie sich wenden können. Sie wissen, was zu tun ist. Sollten Sie ein bestimmtes Gedicht unter Verdacht haben (vielleicht eine berüchtigte Zeile von Goethe oder ein paar subversive Strophen der Bachmann), dann nehmen Sie diese Worte (behutsam und vorsichtig) und senden Sie diese an die Leitung des Bob Graham Education Center (LeoTorres@dadeschools.net) nach Miami. Fordern Sie vom Direktorium eine strenge Prüfung – und, wenn nötig, ein sofortiges Verbot. Was Sie noch tun können? Nun, wenn Sie Kinder oder Kindeskinder im schulfähigen Alter haben, verschicken Sie Ihre Lieben nach Südflorida. Besorgen Sie Ihnen einen Platz im Bob Graham Education Center. Dort mag man Cheeseburger und Donuts mümmeln. Aber man nimmt Gedichte ernst. Und man versucht, zumindest in der Grundschule, die Kinder vor den gefährlichsten Zeilen zu bewahren. Etwa vor diesen: For there is always light, If only we’re brave enough to see it, If only we’re brave enough to be it. Mögen Sie sich noch von vielen gefährlichen Gedichten verzaubern lassen – und mögen Sie in eine gute Woche starten. |