Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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1. April 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
jedes Jahr kurz nach Ostern kam mein Onkel Hans - er war ein Bär von einem Mann - aus München zu Besuch aufs Land. Er war ein Tüftler, er konnte Uhren und Dreschmaschinen reparieren und sehr spannend erzählen. Jedes Mal war die Geschichte von der Münchner Feldherrnhalle dabei. Ihr Höhepunkt war immer folgender Satz: „Anglegt hab‘ i, gschossn hab‘ i – aber troffn hab‘ i eam net, den Hund!“ Die Rede war von Adolf Hitler. Und dann geriet der Onkel ins Grübeln, was wohl alles nicht passiert wäre, wenn er ihn getroffen und erschossen hätte. Oskar zum Beispiel, sein Bruder, hätte nicht sterben müssen: Der war Oberbootsmannsmaat in der Kriegsmarine und Besatzungsmitglied im deutschen Unterseeboot U 85, das 1942 vom US-Zerstörer USS Roper bei Cape Hatteras versenkt wurde. Onkel Hans, der dann immer weiter ausholte in dem, was dann alles nicht hätte passieren müssen, gehörte zu einer Hundertschaft der bayerischen Bereitschaftspolizei, die am 9. November 1923 den Marsch Adolf Hitlers und seiner zweitausend Putschisten zur Münchner Feldherrnhalle aufhielt und so den Hitler-Putsch und die Machtübernahme der Nationalsozialisten fürs Erste verhinderte.

Der Hitler-Putsch war das Lebensthema von Onkel Hans: Wie Hitler im Münchner Bürgerbräukeller die Revolution ausrief, wie er Mitglieder der bayerischen Regierung, den Oberbürgermeister und Stadträte als Geiseln nahm, wie er die Notendruckerei ausrauben ließ und mit seiner SA zur Feldherrnhalle, dem Sitz des Wehrbereichskommandos, marschierte, um die Truppen der Reichswehr auf seine Seite zu ziehen – und wie der versuchte Staatsstreich dann, unter seiner, des Onkels Beteiligung, niedergeschlagen wurde. Fünfzehn Putschisten und vier Polizisten kamen bei dem Putschversuch ums Leben, der dann von der bayerischen Justiz als „unglücklich verlaufener Propagandazug“ verharmlost wurde.

Wie die bayerische Justiz den Terroristen Hitler hofierte
 
Heute vor hundert Jahren, am 1. April 1924, wurde Hitler nach einem skandalös wohlwollenden Prozess zu einer skandalös milden Strafe verurteilt – sehr viel milder als geltendes Recht und Gesetz es vorschrieben, nämlich nur zu fünf Jahren Festungshaft in Landsberg (und dann schon ein paar Monate später, am 20. Dezember 1924 dort wieder entlassen, weil die Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde). Sowohl der Sitzungs-Staatsanwalt als auch der Vorsitzende Richter Georg Neithardt beweihräucherten Hitler und seine Kumpanen als Männer von edelsten Absichten und ließen es zu, dass aus dem Prozess eine Werbeveranstaltung für die Nationalsozialisten gemacht wurde.

Otto Gritschneder, der 2005 verstorbene Münchner Rechtsanwalt und Historiker, hat über die rechtslastige Blindheit der bayerischen Justiz akribisch geforscht, mir als damals jungem SZ-Redakteur das Ergebnis seiner Recherchen mit anhaltender Empörung berichtet und dann 1990 in einem bei C.H. Beck erschienen Buch dargelegt: „Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H.“

Dem Anwalt Gritschneder geht es darin wie meinem Onkel Hans: „Der Leser mag hier“, so schreibt er, „eine kleine Weile innehalten und darüber nachdenken, wie ganz anders die Weltgeschichte verlaufen wäre, wenn Hitler die restlichen drei Jahre, 333 Tage, 21 Stunden und 50 Minuten noch in Landsberg inhaftiert geblieben wäre“. Und: Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn nicht das unzuständige Volksgericht in München geurteilt hätte, sondern der zuständige Staatsgerichtshof in Leipzig? Und wie ganz anders wäre sie verlaufen, wenn der schon mehrfach vorbestrafte Österreicher aus Braunau, wie es im Republikschutzgesetz vorgeschrieben war, ausgewiesen worden wäre?
SZPlus Prantls Blick
Braunes Konfetti 
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Man fragt das und hofft so sehr, dass sich die Blindheit und die Fehler der demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen nach hundert Jahren nicht noch einmal wiederholen. Das darf nicht einmal in Spurenelementen so sein. Der Hitler-Prozess von 1924 ist der Beleg dafür, warum eine wehrhafte Demokratie eine wehrhafte Justiz braucht. Es gilt die Mahnung, dass es Rechtsradikalen und Rechtsextremisten nicht mehr gelingen darf, aus einem Prozess über und gegen sie ein Justiztheater zu machen. Ich sage das im Hinblick auf den Prozess vor dem Oberverwaltungsgericht Münster, in dem es um die Verfassungsgefährlichkeit der AfD geht. Darüber schreibe ich heute in meinem SZ-Plus-Text: „Braunes Konfetti. Warum man heute beim Prozess über die Verfassungsfeindlichkeit der AfD hundert Jahre zurückdenken sollte“.

Ich wünsche Ihnen schöne Osterspaziergänge
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Weihrauch für Hitler
In meiner Bibliothek gibt es eine „Nie wieder“-Ecke. Dort stehen die Bücher zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, dort stehen die großen und kleinen Kommentare zum Staats- und Verfassungsrecht der Bundesrepublik, dort steht das verdienstvolle Buch des Historikers Norbert Frei über „Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit“. Dort steht auch ein kleines Buch von Otto Gritschneder aus dem Jahr 1990, das den Titel trägt: „Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H. Der Hitler-Putsch und die bayerische Justiz.“ Geschrieben hat es der damals 76-jährige Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder. Vom Umfang her ist es eher ein Büchlein. Aber: Es hat mir damals den Kopf aufgesperrt dafür, wie die bayerische Justiz Hitler den Weg bereitet, wie sie Hitler hofiert und wie sie die Putschisten des Marsches zur Münchner Feldherrnhalle vom 9. November 1923 beweihräuchert hat.

Vor genau hundert Jahren, am 1. April 1924, wurde vom Vorsitzenden Richter Georg Neithardt das Urteil gegen Hitler und Co verkündet, in dem er den „rein vaterländischen Geist und edelsten Willen“ der angeklagten Hochverräter feierte und die Voraussetzung dafür schuf, dass Hitler aus der Haft in der Festung Landsberg alsbald auf Bewährung entlassen wurde. Gritschneder hat in seinem Buch das skandalöse Strafverfahren gegen Hitler und Co seziert, dem Gericht seine Fehler nachgewiesen und aus damals noch unveröffentlichten Quellen zitiert. Im Jahr 2000 war Gritschneder dann zusammen mit Lothar Gruchmann und Reinhard Weber Mitherausgeber eines vierbändigen Werks, in dem der Hitler-Prozess und die einzelnen Verhandlungstage penibel protokolliert werden. Es ist dies die Chronik einer Justizfarce, die sich nicht wiederholen darf.

Gritschneder, er ist 2005 gestorben, war, wie man in Bayern sagt, ein „gwappelter“ Anwalt, also ein Advokat von gewiefter Streitbarkeit. Das haben seine Mandanten, von Franz Josef Strauß bis Rudolf Augstein, zu schätzen gewusst. Er hat nie jemandem nach dem Mund geredet. Noch im hohen Alter hat er als erster die Schattenseiten des ehemaligen Münchner Erzbischofs Faulhaber beschrieben, der mit seiner antidemokratischen Polemik, wenn auch unabsichtlich, Hitler den Weg bereitet habe. Warum er das an das Licht der Öffentlichkeit brachte? „Weil es die Wahrheit ist,“ war seine Antwort. Sein Buch über den Hitler-Prozess ist für knappe zehn Euro antiquarisch zu haben.  Es lohnt sich immer noch und wieder, es zu lesen.  

Otto Gritschneder, Bewährungsfrist für den Terroristen Adolf H. Der Hitler-Putsch und die bayerische Justiz. Das Buch hat 187 Seiten, es ist 1990 bei C.H. Beck erschienen.
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SZPlus
Tiefland, Tiefpunkt
Die Regisseurin Leni Riefenstahl gehörte zu den Menschen mit dem abwaschbaren Gewissen. Sie war ganz eng mit den ganz großen Verbrechern des Nazireiches. Aber nach dessen Zusammenbruch wollte sie von nichts gewusst haben – nichts von den Großverbrechen, nichts von Auschwitz, auch nichts vom Schicksal der Sinti und Roma dort, die sie zuvor als Zwangsarbeiter für die Komparserie ihres Films „Tiefland“ rekrutiert hatte. In einem Interview log sie noch im Jahr 2002: „Wir haben alle Zigeuner, die in Tiefland mitgewirkt haben, nach Kriegsende wiedergesehen. Keinem einzigen ist etwas passiert.“ Fakt ist: Viele ihrer Komparsen haben die Vernichtungslager nicht überlebt. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich bezeichnete Riefenstahl 1994 als „Superverleugnerin“.

Zu Riefenstahls Spezialitäten gehörte es, Journalisten und Filmemacher, die ihr Geheuchel entlarvten, mit Zivilklagen zu überziehen. Eine dieser Klagen traf die Dokumentarfilmerin Nina Gladitz, die im Auftrag des WDR die Doku „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit“ gedreht hatte. Es ging darin um Riefenstahls Film „Tiefland“ und das Lügengebäude, das Riefenstahl darüber aufgebaut hatte. Der WDR kuschte vor Riefenstahl und sperrte den Film nach der ersten Ausstrahlung im Jahr 1982 in den Giftschrank, obwohl die Justiz der Dokumentarfilmerin und ihren Vorwürfen gegen Riefenstahl ganz überwiegend Recht gegeben hatte. Die Kollegin Aurelia von Blazekovic geht dem Schicksal dieser Doku auf der Medienseite der SZ-Ausgabe vom Osterwochenende nach. Sie analysiert, warum der WDR die bittere Recherche über den Film Tiefland bis heute partout nicht zeigen will und auf diese Weise Riefenstahls Verlogenheit stützt. Es ist dies ein Tiefpunkt in der Geschichte des WDR.
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