  | | |  | | 12. April 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | viele Jugendliche stehen, wenn sie nicht gerade eine Firma erben, vor dem Problem, was sie âwerdenâ sollen. âWerdenâ steht in Anführungszeichen, weil man auch ohne einen Beruf etwas ist: Mensch, Tochter, Sohn, Bruder, Schwester etc. Mein Bruder sagte als junger Mensch gerne, er wolle zwei Jahre lang Lehrling â Auszubildende gab es damals noch nicht â bei einem Millionär sein und dann nach Abschluss der Ausbildung selbst Millionär werden. Das hat so nicht geklappt, aber überwiegend glücklich ist er dennoch geworden. Ich wiederum schwankte zwischen Archäologe und Offizier, stellte dann aber als Wehrpflichtiger schnell fest, dass es wichtig ist, das Land zu verteidigen, aber nicht durch mich.
Ich blieb also Mensch und wurde Journalist. Zu meinem Glück scheiterte mein erster Versuch in diesem Beruf knapp, weil ich bei einer Volontariatsausschreibung in der Sportredaktion des Münchner Merkur nur zweiter Sieger wurde. Manchmal, nachts um halb drei, wenn ich nicht schlafen kann, stelle ich mir vor, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn diese Bewerbung damals Erfolg gehabt hätte. Schlimmer als bei den Fallschirmjägern wäre es mutmaÃlich nicht geworden, aber vielleicht hätte ich dann im Laufe meines Lebens Waldemar Hartmann, Berti Vogts und Jens Lehmann geduzt. Aus meiner heutigen Sicht wäre das für mich ungefähr so, wie es für einen iranischen Mullah wäre, einen Schweinsbraten zu essen.
Apropos Lehmann: Das ist ein Mensch, dessen Lebenseinstellung mich immer wieder mal erheitert hat. Im Moment führt er einen Prozess, weil er mutmaÃlich mit einer Kettensäge unbemerkt (!) die neue Garage des Nachbarn so bearbeiten wollte, dass ihm der Blick auf den Starnberger See erhalten bleibt. Im Dezember 2009, damals noch Torwart in Stuttgart, pinkelte er während eines Spiels öffentlich hinter die Bande. Und als man ihn dieser Tage als Experten zur Erosion des FC Bayern befragte, sagte Lehmann, dem FCB fehle es an Organisation: âInkonstanz ist meistens eine Sache der Organisation.â
Lehmann sprach nicht etwa von Inkontinenz, und der Duden lässt âInkonstanzâ als Bezeichnung für Unbeständigkeit durchaus zu. Dennoch bin ich mir als gescheiterter Sportvolontär fast sicher, dass Lehmann eigentlich âin Konstanzâ gemeint hat, weil er seit geraumer Zeit einen Trainerjob sucht und sich auf diese Weise dem SC Konstanz-Wollmatingen anbieten wollte, dessen Männermannschaft im sehr unteren Viertel der Verbandsliga Südbaden steht. Der SC K-W bräuchte dringend Organisation, in seiner relativen Erfolglosigkeit war er in den vergangenen Monaten deutlich beständiger als selbst der FC Bayern in seiner Unbeständigkeit. Inmünchen ist vielleicht auch eine Sache der Organisation, aber doch weniger als in Konstanz.
Der Wildbiesler Lehmann wurde in seiner Eigenschaft als Experte befragt. Experte (oder auch Expertin) ist ein schöner Beruf. Man bekommt ein Mikrofon vors Gesicht gehalten, und es reicht in aller Regel, wenn man Gemeinplätze überzeugend ausspricht. Dass es zum Beispiel für die Ukraine schwierig wird, wenn sie nicht mehr so viel Unterstützung aus einem dann wieder möglicherweise vertrumpten Amerika erhält, weià auch der Mann an der Käsetheke im Supermarkt. Er arbeitet nur nicht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und sitzt auch nicht im Ethikrat, sondern eben an der Käsetheke. Wenn ich zu ihm sagen würde, ich hätte gerne âeine/n Camembert*inâ, würde er zu mir sagen, man solle da gendern, wo es sinnvoll ist, aber nicht an seiner Käsetheke. Das ist eine eindeutige Expertenantwort, wie sie eigentlich nachdenklichen Kommentatoren oder meinungsstarken Podcasterinnen vorbehalten ist. Die sind nämlich Experten und Innen.
In meinem nächsten Leben â ich weiÃ, es gibt keines â werde ich vielleicht Experte. Wenn man ein paar Stunden in der Woche liest (und ich lese gern), kann man sich für etwelche Experteneinsätze, die so 1:30 Minuten bis 7:30 Minuten (Deutschlandfunk) dauern, genug Vordergrundwissen verschaffen, um einen Satz zu sagen wie: âMan muss bei der Interpretation der Kriminalitätsstatistik bedenken, dass nicht die Herkunft der Täter, sondern ihr Alter und ihre Sozialisation entscheidend sind.â Wenn man eine solche allgemein bekannte Weisheit nur mit der richtigen Betonung ausspricht (nicht âniiichtâ sagen, sondern NICHT), wirkt das, als wäre man eine Mischung aus Günther Jauch und Carlo Masala.
Wenn man als Experte nach etwas gefragt wird, über das man nichts gelesen hat, sagt man einfach etwas anderes, über das man gerade gelesen hat. Zur Einleitung empfiehlt sich eine Floskel wie: âBevor ich auf Ihre Frage antworte, möchte ich aus guten Gründen darauf hinweisen ...â Dann labert man zwei Minuten, und die Moderatorin wird meistens irgendwas zu diesen zwei Minuten sagen und ihre Frage vergessen haben. Besonders einfach ist das bei Moderatoren und Innen, die selbst gerne labern (die meisten) und deswegen in einem Wortbeitrag vier Fragen stellen, von denen man sich als Experte dann eine aussucht, über die man gerade was gelesen hat.
Vielleicht sollte ich mal den Lehmann antexten und ihm vorschlagen, dass wir eine Expertenfirma gründen: Er ist bekannt, und ich kann lesen. Wir wären einlad- und befragbar zu: FuÃball, Militärischem aller Art, Gewalt im Haus und auf dem Dach (nur L.), Gruppe 47 (nur K.), Ukraine, Württemberg und andere Länder. Nichtgenanntes lieÃe sich binnen zwei Tagen erarbeiten. | |
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|  | | | | Matthias Sammer, der Gedankenartist | | Er ist der Grübler unter den FuÃballexperten. Und wenn er loslegt, bekommt das Spiel eine andere Dimension - manchmal eine oder zwei zu viel. Eine Stilkritik. | | | |
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