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Liebe/r Leser/in,

unser Land zwischen zwei Regierungen, die Sehnsucht nach Aufbruch, auch wenn Corona alles zu hemmen scheint. Und plötzlich grüßt das Gestern.

Ja, als gestrig, üppig-besitzstandswahrend empfand ich am Dienstag die Nachricht über die Größe des Büros der künftigen Altkanzlerin Angela Merkel. Neun Mitarbeiter und Monatsgehälter bis zu 10.000 Euro, obwohl 2019 der Haushaltsausschuss des Bundestages beschlossen hatte, dass künftige Bundeskanzler nach ihrer Amtszeit höchstens fünf Mitarbeiter haben dürften. Will Merkel sich als Reserve-Kanzlerin positionieren, falls Scholz ausfallen sollte? Gebt ihr doch gleich ein Büro im Kanzleramt, da sind die Wege zum gemeinsamen Kaffee kürzer, und billiger wäre es für den Steuerzahler auch …

Doch im Ernst: Mit dem Bild der „schwäbischen Hausfrau“, mit dem Merkel so gerne kokettiert hat, ist dieser „Hofstaat“ ebenso wenig zu vereinbaren wie mit ihrem Image als persönlich bescheidene Kanzlerin, die am Freitagabend vor der Fahrt in die Uckermark noch schnell im Supermarkt „Ullrich“ einkaufen war.

Möglicherweise ist Angela Merkel nicht klar, auf welche Mühlräder sie da Wasser leitet. Viele Bürger werden sicher enttäuscht denken: Sie also auch. Es ist Wasser auf die Mühlen der Entfremdung zwischen den gerne so bezeichneten „kleinen Leuten“ und denen da oben. Nach der Melodie: Die, die eh schon alles haben, bekommen immer mehr, und wir können sehen, wo wir bleiben. Staatsverächter und radikale Spinner verstärken diesen Chor nur zu gerne!

An Beispielen ist aus deren Sicht kein Mangel: Politiker, die oft nicht mehr wissen, was der Sprit kostet, verordnen den Bürgern mit wechselnden Gründen noch höhere Benzinpreise. Oder: Politiker und Beamte, deren Altersbezüge für Angestellte unerreichbar sind, verordnen diesen die Rente mit 67, 68 oder gar 69.
Die Gräben in unserer Gesellschaft sind so tief wie breit. Sie tun sich auf zwischen Stadt und Land, Jung und Alt, zwischen denen, die als Beamte oder Festangestellte eine sichere Zukunftsperspektive genießen, und denen, die in der Welt der befristeten Arbeitsverträge, der Scheinselbstständigkeit und des Niedriglohn­sektors leben. Zwischen der Welt der Sicherheit und des Wohlstands sowie der Welt der Zukunftsangst und der Kargheit gibt es wenig Berührungspunkte.

Das ist natürlich eine Schwarz-Weiß-Sicht auf die Verhältnisse, aber manchmal verhilft gerade sie zu Erkenntnissen. Ich frage mich zum Beispiel, warum so viele Bürger sich so hartnäckig den ehrlichen und in der Sache ja allzu berechtigten Impfappellen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft verschließen?
Mein Verdacht: Neben den Esoterikern, Freiheitspuristen und gewissenlosen Populisten geht es vielen um ein Zeichen des Protests gegen Verhältnisse, die von ihnen als zutiefst ungerecht und als Kränkung empfunden werden. Die Zündstoffe können wechseln; man denke nur an den Euro oder die Flüchtlingskrise.

Die Verweigerung des Impfens oder des Masketragens ist auch und vielleicht nicht einmal zuletzt Ausdruck einer Dagegen-Haltung, einer Nicht-mein-Staat-Haltung. Wer so denkt und empfindet, der sieht sich auch nicht mehr an Gesetze gebunden. Das Phänomen ist nicht unbekannt. Schon in den 70er und vor allem in den 80er Jahren regten sich heftige Proteste gegen Symbolprojekte wie den Ausbau des Frankfurter Flughafens oder das atomare Endlager in Gorleben. Neben dem Widerstand aus der Region, der sich an konkreten Umständen wie der Rodung von Wäldern entzündete, manifestierte sich hier auch eine bundesweit vor allem in der Jugend verbreitete Dagegen-Haltung von links.
Ich glaube nicht, dass man mit Sozialpolitik und Umverteilung dieser Dagegen-Haltung von heute beikommt. Für mich gehört zu den tieferliegenden Ursachen, dass Rechte und Pflichten in Deutschland aus dem Gleichgewicht geraten sind. Wer als Einzelner Rechte und Freiheiten einfordert, hat immer auch eine Verantwortung. Für sich und für die Gemeinschaft, die ihm diese Rechte gewährt.

Wer das Recht auf eine umfassende und bestmögliche gesundheitliche Versorgung geltend macht, muss sich meiner Meinung nach selbst die Frage nach der Pflicht zum Impfen stellen. Wer als Staatsbediensteter ganz unmittelbar von unserem Gemeinwesen lebt, sollte gar nicht erst auf die Impfpflicht warten, sondern der Aufforderung durch ebendiesen Staat nachkommen. Wer als Unternehmer die trotz aller berechtigter Kritik gute Infrastruktur in Deutschland in Anspruch nimmt, sollte nicht versuchen, Steuern zu vermeiden. Wer als Dienstleister seinen Kunden einen guten Service bieten will, um auf dieses Weise gutes Geld zu verdienen, sollte seine Mitarbeiter (Paketboten, Pizzabäcker z. B.) ebenso gut behandeln und bezahlen. Wer öffentliche Anlagen jedweder Art (Parks, Spielplätze) nutzt, sollte sie so pfleglich behandeln wie sein persönliches Eigentum.

Schaffen wir ein solches Umdenken? Vielleicht, denn Krisenzeiten sind für Veränderungen nicht die schlechtesten Zeiten. Vor allem aber braucht es viele, die die Balance von Rechten und Pflichten überzeugend vorleben. Denn es geht um unser Land. Um unseren Wohlstand. Um einen Aufbruch!

Mit vielen Grüßen

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Robert Schneider
Chefredakteur FOCUS Magazin

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