Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das in der kommenden Woche wichtig ist – und manchmal auch darüber hinaus.
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17. Oktober 2021
Guten Tag,
bis Weihnachten, so sagt Olaf Scholz, soll die neue Bundesregierung stehen. Als am vergangenen Freitag, es war zehn Wochen vor Heilig Abend, Scholz and Friends das Ergebnis der Sondierungsgespräche auf allen Kanälen stolz verkündeten, erinnerte ich mich an Franz Beckenbauers legendären Auftritt im Werbefernsehen: Beckenbauer stand seinerzeit, es ist schon lang her, staunend da in winterlicher Landschaft - als erst ein Weihnachtsmann und dann ein Handy in Geschenkpackung vom Himmel fielen. Und Beckenbauer sprach dazu die geflügelten Worte: "Ja, is‘ denn heut scho Weihnachten?"

Es war dies, vor 21 Jahren, die Werbung für ein "Free & Easy X-Mas-Set" eines Mobilfunkunternehmens. Dieses Mobilfunkunternehmen ist schon längst Geschichte und das Handy, für das damals so augenglänzend geworben wurde, ist heute ein alter Knochen. Die Werbung dafür hat das Produkt überlebt. Wird es dem Päckchen Papier, auf dem das Ergebnis der Sondierungsgespräche von SPD, Grünen und FDP festgehalten ist, so ähnlich ergehen? Scholz, Baerbock, Habeck und Lindner schwärmen davon so, wie einst Beckenbauer von seinem "Free & Easy X-Mas-Set".

Von Hartz IV zu Hartz V?

Das Sondierungspäckchen enthält vieles nicht: Es enthält keine Steuererhöhungen, auch nicht für sehr Reiche; auch keinen Mietendeckel; es enthält auch keine Reform der Pflege und kein Tempolimit. Es enthält aber einen Mindestlohn von 12 Euro; es enthält viel Solarenergie und eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Und es enthält Andeutungen, wie ein reformiertes Einwanderungsrecht aussehen könnte - mit einem Punktesystem, wie es einst schon Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) auf der Basis der Vorschläge der Süßmuth-Kommission vorgeschlagen hatte; dieses Konzept eines "Zuwanderungsgesetzes" scheiterte damals an der Merkel-CDU im Bundesrat. Und: Das Sondierungspäckchen enthält viele schöne Worte, von denen man noch nicht genau weiß, was sich dahinter verbirgt. Zum Beispiel: Hartz IV soll in ein "Bürgergeld" umgewandelt werden! Aber die ersten Darlegungen dazu klingen so, als handele es sich um ein anders benanntes Hartz V.

Leben und Überleben

Die Not, die es zu wenden gilt, ist größer, als sie sich aus dem Papier-Päckchen ergibt. Die Größe der Aufgabe erscheint hier kleiner, als sie ist: Es geht nicht nur um das kleine Karo des Wer-mit-wem-und-wie-Regierens in Deutschland. Gewiss: darum auch. Die neue Bundesregierung muss ihren Beitrag leisten, um eine globale Herausforderung zu bestehen, wie sie der Klimawandel darstellt. Es geht es um das Überleben angesichts weltweiter Großrisiken. Es geht darum, wie der Mensch in einer Welt der Unordnung, in einer chaotischen Welt, in einer sich aufheizenden Welt Leben und Ordnung finden kann. Es geht - um die Schöpfung. Schöpfung ist nicht einfach ein anderes Wort für Natur. Schöpfung ist Chaosbewältigung. Es geht immer wieder darum, aus der Destruktivität herauszukommen.

In der Corona-Pandemie haben wir weltweite Unordnung erlebt, eine unzeitig-vorzeitige Begegnung mit dem Tod. Das Leben in der Corona-Zeit mit all ihren Beschränkungen war beschwerlich - es war Chaos für die einen; Ödnis für die anderen; bloße Störung der Normalität für die Dritten. Die Impfung brachte Hoffnung zurück, sie brachte und bringt die Menschen wieder aus der Gefahren- und Todeszone. Aber es ist noch viel kreativer Geist vonnöten, um das gestörte Zusammenleben neu zu ordnen. Man würde sich wünschen, dass es auch eine Impfung gegen die Aggression in Afghanistan gäbe, auch eine Impfung gegen die Gewalt im Nahen Osten, eine Impfung gegen den Klimawandel - und eine Impfung gegen die Gemeinheit des Gemeinwesens.

Eine politische Pfadfinderei

"Himmel, Hölle, Fegefeuer" habe ich ein soeben erscheinendes neues Buch von mir genannt, in dem Sie auch, neu bearbeitet, diejenigen meiner SZ-Newsletter finden, die von den ganz existentiellen Herausforderungen handeln. Sie, die Leserinnen und Leser von "Prantls Blick", haben mich oft nach so einer Sammlung gefragt.

Warum heißt dieses Buch nun "Himmel, Hölle, Fegefeuer"? Weil diese Begriffe die existentiellen Dinge, die brennenden und kollektiven Überlebensfragen bezeichnen - die Themen, bei denen es um Leben und Tod geht, weil diese Begriffe für das große Gelingen, das große Scheitern und das große Mühen dazwischen stehen. Es geht mir um "Eine politische Pfadfinderei in unsicheren Zeiten", so der Untertitel. Der Band erscheint im Langen-Mueller Verlag, hat 496 Seiten, kostet 24 Euro.

Wir erleben derzeit so etwas wie die Wiedergeburt des Fegefeuers. Im Mittelalter war dieser Ort im Jenseits nach dem Tod angesiedelt. Das Feuer brennt aber heute nicht im Jenseits, sondern im Diesseits - aber jenseits einer Wirklichkeit, die auf die Illusion des "weiter so!" setzt. Wir leben in einer Zeit, in der sich mit dem Klimawandel die Hölle auf Erden ankündigt. Es kann aber auch gelingen, am Heilwerden der Welt zu arbeiten - und die Politik kann ihren Teil dazu beitragen. Das ist, nach dem Ende der Sondierungsgespräche die Aufgabe der jetzt beginnenden Koalitionsverhandlungen.

Das alte Fegefeuer war ein wichtiges, aber irreales Element im Weltbild und in der Lebenswirklichkeit des Mittelalters. Das neue Fegefeuer gehört zur realen Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Hitzewellen, Feuer und Dürren, Starkregen und Hochwasser zeigen an, was uns mit dem ungebremsten Klimawandel erwartet; der Klimawandel macht Extremwetter extremer. All das zeigt an, dass es unheilvoll heiß wird, dass wir in einem neuen Purgatorium angekommen sind - also in einer Welt zwischen Himmel und Hölle, bedrohlich nah an Letzterer.  

Eine Welt zwischen Himmel und Hölle

Beim alten Fegefeuer war es so, dass es nach vielen Qualen einzig und allein den Weg in den Himmel gab; der Weg aus dem Fegefeuer war also die Einbahnstraße ins Paradies. Beim neuen Fegefeuer gilt das nicht; da gibt es beides - es gibt die Aussicht auf den Himmel und die Aussicht auf die Hölle. Auch wenn die Zeichen schlecht stehen: Es ist nicht ausgemacht, dass zwangsläufig die Hölle kommt, die Hölle auf Erden. Gewiss: Früher gesetzte Klimaziele sind schon jetzt definitiv nicht mehr erreichbar. Es kann also nicht bleiben, wie es ist. Es wird ungemütlich werden müssen. Die Konsequenz kann auch nicht sein, jetzt alles laufen zu lassen, sondern zweierlei zu tun: erstens eine Politik zu entwickeln, die dem Wandel gewachsen ist, zweitens Städte zu bauen, Wälder und Gewächse zu pflanzen, die den Wandel lebbar machen. Das ist Reinigung, das ist Läuterung, das ist Leben im Fegefeuer. Die Hoffnung auf Läuterung ist nicht spirituell, sie ist essenziell.

Die Teufeleien von heute

An Hölle und Teufel glauben selbst die, die sich Christen nennen, heute nicht mehr so richtig; der Teufel ist für die allermeisten ein Hirngespinst. Aber das heißt nicht, dass es keine Mächte mehr gäbe, denen sich der säkulare Mensch teuflisch ausgeliefert fühlt. Die Teufeleien heute haben andere Namen: Sie heißen Egoismus, Individualismus, Fundamentalismus, Profitismus, Marktradikalismus, Nationalismus, Rassismus. All diese Ismen sind nicht abstrakt, sie haben Macht, sie haben Kulte, sie haben Gläubige, sie haben Messiasse, sie haben Jünger. Die Frage heute ist nicht die nach einem gnädigen Gott, sondern nach gnädigen Verhältnissen in einer Welt, die sich selbst vergiftet und zerstört.

Das Fegefeuer als Staatsform

Die Demokratie ist eine anstrengende Angelegenheit, sie ist der Ort von Mühsal und Qual, von Besserung und Läuterung. Sie ist das Fegefeuer als Staatsform. Sie ist der richtige Ort, um das Notwendige, das Notwendende, zu tun. Demokratie ist das Fegefeuer als Staatsform.

Aber Vorsicht: Reinigung und Läuterung sind gern vom Fundamentalismus umweht und von inquisitorischem Geist angehaucht; sie sind daher eine Gelegenheit für die Geschäftemacherei mit der Angst. So war es in den Zeiten des alten Fegefeuers, als Mönche wie der Dominikaner Johann Tetzel die Menschen des Mittelalters mit Horrorpredigten traktierten, um dann die Ablassbriefe teuer zu verkaufen, mit denen der Bau des Petersdoms in Rom finanziert wurde.

Es wird die Geschäftemacherei mit der Angst auch in den Zeiten des ökologischen Umbaus der Gesellschaft geben. Es werden neue Ablassverkäufer auftreten. Sie werden die Hölle verkünden und den Himmel versprechen. Man darf ihnen nicht auf den Leim gehen; Leim klebt, er beflügelt nicht. Es gibt die Chance, erfolgreich am Heilwerden der Welt zu arbeiten; es gibt die Chance, dass die Gesellschaft die Not wendet, dass sie die Mühen und die Mühsal auf sich nimmt, die das erfordert. Das Betriebsprogramm dafür ist die Demokratie - sie ist, wie gesagt, das Fegefeuer als Staatsform.

Die potentiellen Koalitionäre SPD, Grüne und FDP nennen ihr Projekt "Fortschrittskoalition". Das ist etwas sonderbar angesichts der ressourcenausbeutenden Bedeutung, die der Begriff "Fortschritt" in der Vergangenheit hatte. Der Klimawandel braucht nicht das Fortschreiben eines solchen Fortschritts. Der Klimawandel verlangt nach Umkehr und Läuterung.

Jahreszeitlich bedingt wird es kälter. Das Fegefeuer kann auch wärmen. Das wünsche ich uns.

Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
P.S. Diesen Newsletter präsentieren wir demnächst leicht verändert. Unser Autor Heribert Prantl begrüßt Sie dann mit einer Einordnung, die auf den Kolumnen-Text hinführt. Die Kolumne selbst wird vom 31. Oktober 2021 an für Leserinnen und Leser zugänglich sein, die einen SZ Plus-Zugang haben. Die Lesetipps von Heribert Prantl erscheinen in gewohnter Form, der Newsletter selbst bleibt kostenlos. 

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Prantls Leseempfehlungen
Moria, vergessen?
Ein Jahr nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria ist das Thema öffentlich kaum noch präsent. Dieses Buch holt Moria zurück in die Debatte. Gewiss: Flüchtlingsbücher gibt es viele. Dieses Buch ist keines der vielen. Es ist keine Reportage über ein Einzelschicksal. Es ist auch kein Spendenaufruf auf x Seiten. Es ist ein Buch, das nicht klagt und nicht lamentiert. Es ist ein Buch, das die Augen öffnet dafür, wo das Elend sitzt und wie es heißt. Es ist ein Buch der Aufklärung darüber, warum die europäische Flüchtlingspolitik hinten und vorn nicht funktioniert, und darüber, wie sie funktionieren könnte. Dieses Buch ist eine Dokumentation über die katastrophalen Zustände in Moria und auf Lesbos, es ist ein Buch über Hilfe und Hilflosigkeit. Dieses Buch ist ein Protokoll - ein Protokoll der Begegnungen mit Zeitzeugen; also mit Geflüchteten und Einheimischen, mit Olivenbauern und Polizisten; es berichtet von Erfahrungen mit Leuten, die helfen wollen, es aber nicht können, und mit Leuten, die helfen können und es auch tun.

Es ist ein Buch über hilflose und hilfreiche Hilfe. Es ist ein Buch über Leute, die an den Flüchtlingen und ihrem Elend unglaublich viel Geld verdienen. Und es ist ein Buch über Menschen, die trotz alledem ihren Mut nicht verloren haben. Ich habe dieses Buch des journalistischen Kollegen Martin Gerner mit großer Aufmerksamkeit und mit großem Gewinn gelesen - und ein Vorwort dafür geschrieben.

Der Autor des Buches ist ein Mann, der Aufbauhelfer in Kriegsländern war, der die Sprachen und die Sprache der Flüchtlinge spricht, der sie deshalb anhören und zu Wort kommen lassen kann. Er tut das auf packende und anrührende Weise: Und so hat sein Buch nicht nur einen, sondern viele Autoren. Martin Gerners Buch über das Elend auf Moria und Lesbos seziert die europäische Flüchtlingspolitik. Es protokolliert eine Katastrophe, ein multiples Versagen.

Martin Gerner: Moria. System. Zeugen. Flüchtlinge, Einheimische und Helfer in Zeitzeugenbegegnungen. Das Buch ist Ende August 2021 als Softcover im Böhlau-Verlag erschienen. Es hat 168 Seiten und kostet 25 Euro.
Zum Buch
Bis zu zehn Jahre Haft
Es gibt Zeitungsseiten, mit denen kann man strafrechtliche Klausuren bestreiten. Das SZ-Protokoll über den Sebastian-Kurz-Skandal in Österreich ist so ein Text. Dieses Protokoll ist überschrieben mit "Kurz-Nachrichten" und hat den Untertitel: "Warum der österreichische Bundeskanzler über ein Konvolut aus Handy-Botschaften stürzen musste: Protokoll eines regen Austauschs über Meiden, Macht und Meinungsumfragen". Man könnte diesen Zeitungstext den Studierenden vorlegen mit der Schlussbemerkung: "Prüfen Sie die Strafbarkeit aller Beteiligten nach österreichischem und nach bundesdeutschem Recht." Aus dem in der SZ notierten Protokoll von SMS-Nachrichten zwischen Sebastian Kurz und seiner Entourage, die von den SZ-Kolleginnen und Kollegen in den zeitgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden, ergibt sich ein korruptives System der strafrechtlichen Sonderklasse; zu benennen als Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit, und zwar, wegen der Höhe des Schadens, in der Variante nicht eines bloßen Vergehens, sondern eines Verbrechens. Der Strafrahmen liegt da bei "Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren".

Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption in der Wiener Dampfschiffstraße wird diese Hilfe aus der Welt von Lehre und Wissenschaft nicht brauchen. Die Fakten sind ungeheuerlich, die juristische Einordnung aber ist nicht übertrieben kompliziert; es gibt im Bereich der Wirtschaftskrimininalität viel komplexere und unübersichtlichere Sachverhalte. Das Ganze wird - so nicht noch sehr Unvorhergesehenes passiert oder die Staatsanwaltschaft politisch kastriert wird - auf eine ganze Reihe von Anklagen hinauslaufen. Die Faktenbasis kann man im SZ-Protokoll nachlesen, zusammengestellt von: Ramona Dinauer, Felix Haselsteiner, Cathrin Kahlweit, Frederik Obermaier, Bastian Obermayer und Ralf Wiegand. Es gibt die Chat-Protokolle auch gelesen vom Ensemble des Wiener Burgtheaters.
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