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Liebe/r Leser/in,

eines muss man dem Krieger im Kreml lassen: Er versteht mehr von uns als wir von ihm, wie mir scheinen will. Seit Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht hat, ist der Westen – allen voran die Bundesregierung – noch eifriger bemüht, dem neuen Zaren zu garantieren, dass er ein Eingreifen der Nato unter keinen Umständen zu befürchten hat. Und so versprach der Kanzler am Mittwoch erst dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: „Die Ukraine kann sich auf unsere Hilfe verlassen. Wir halten zusammen.“ Und Putin versprach er im gleichen Atemzug: Keine Flugverbotszone, keine Friedensmission, keine direkte militärische Konfrontation zwischen Nato und Russland.

Und auch US-Präsident Joe Biden wiederholt die Warnung vor einer solchen Konfrontation gebetsmühlenartig, und das ungeachtet der Tatsache, dass er sogar den Einsatz von C-Waffen in der Ukraine durch das russische Militär erwartet. Putin muss daraus schließen, dass er sich in der Ukraine alles erlauben kann, jedes Kriegsverbrechen, ohne dass die Nato eingreift. Das ist der unbestreitbare Vorteil von Atomwaffen: Sie verbreiten Furcht und Schrecken – also politische Wirkung –, ohne dass sie zum Einsatz kommen.

Natürlich verbietet sich jedes leichtfertige Spiel mit einem militärischen Konflikt zwischen Russland und der Nato. Ich frage mich aber, ob es in der Auseinandersetzung mit einem unberechenbaren Gegner wie Putin wirklich clever ist, alle militärischen Optionen vom Tisch zu nehmen, sich selbst also weitgehend transparent und damit berechenbar zu machen. Die Erfahrungen der Vergangenheit und die eigenen Lebenserfahrungen sprechen eher dagegen.

Ist Olaf Scholz machtpolitisch ein Kanzler ohne Land? Der Gedanke drängt sich mir auf, denn Scholz verfügt derzeit offenkundig weder über eine eigene Mehrheit für die Verabschiedung der allgemeinen Impfpflicht für alle Erwachsenen noch für sein militärisches Aufrüstungsprogramm als Konsequenz aus dem Angriffskrieg Putins in der Ukraine. Deswegen wurde die Impfpflicht zur Gewissensfrage erklärt und muss sich eine überparteiliche Mehrheit im Bundestag suchen, also vor allem mit Stimmen der Opposition. Und die Tatsache, dass die 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr mit Zweidrittelmehrheit im Grundgesetz verankert werden soll, bringt ebenfalls die Opposition ins Spiel.

CDU-Chef Friedrich Merz will sich aber nicht als Mehrheitsbeschaffer für einen Kanzler ohne Mehrheit missbrauchen lassen. Der Oppositionsführer kündigte am Mittwoch im Bundestag an, aus der Union würden nur genau so viele Abgeordnete den Rüstungsmilliarden zustimmen, wie der Ampel zur Zweidrittelmehrheit fehlen. Hier müssen Scholz, sein Vize Robert Habeck und FDP-Chef Christian Lindner die Kanzlermehrheit stemmen.

Und nachvollziehbar ist auch, dass Merz darauf besteht, dass die Milliarden ausschließlich für die Bundeswehr bestimmt sind. Zwar benutzt Außenministerin Annalena Baerbock inzwischen sogar Begriffe wie „Wehrhaftigkeit“, doch die weitgehend friedensbewegten Teile von SPD und Grünen werden alles daransetzen, die Rüstungsmilliarden zivilen Zwecken wie der Bekämpfung der Unterentwicklung und des Klimawandels zuzuführen. Denn wenn man will, ist ja fast alles irgendwie auch Sicherheitspolitik …

Es gibt nur wenige Journalisten, die Biontech bislang zu ihrem Allerheiligsten vorließ: den Bioreaktoren ihres Hauptproduktionsstandorts in Marburg. Dort hat das Unternehmen im vergangenen Jahr 1,2 Milliarden Impfdosen produziert. Der unfassbare Milliarden-Erfolg von Biontech bedeutete auch für das recht verschlafene Fachwerk-Städtchen einen gigantischen Geldsegen. Über der Frage, wie man damit umgeht, implodierte dann sogar die Mitte-links-Koalition des Stadtparlaments. Nun versucht der Ort, mit den Riesensummen Vorbild zu sein für den Rest der Republik, was Klimaneutralität, Wohnungsbau oder Bildungschancen angeht. Ironie der Geschichte: Zwei Wochen nach der Recherche erkrankte unser Chefautor Thomas Tuma (trotz Biontech-Booster) an Corona. Es geht ihm aber schon wieder ganz gut. Ich wünsche ihm eine schnelle Genesung und Ihnen viel Freude an seinem Report ab Seite 52.

Noch einmal in eigener Sache: Ihr FOCUS fühlt sich in dieser Woche anders an als gewohnt. Wegen der Papierknappheit haben wir dünnere Umschlagseiten. Wir sind also etwas leichter geworden – aber haben dennoch nicht weniger Gewicht. Die Seitenanzahl bleibt wie gewohnt – und unsere Leidenschaft, für Sie einen interessanten FOCUS zu machen, natürlich auch.

Mit vielen Grüßen,

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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