Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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5. April 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
in Buchhandlungen, im Fernsehen und natürlich in den Feuilletons wird man zurzeit zugekafkat. Am 3. Juni vor 100 Jahren starb Franz Kafka. Dies ist ein Datum, das sich die Bewusstseins-Industrie (Hans Magnus Enzensberger), in diesem Fall das digital-analoge publizistische Jubiläumskartell, nicht entgehen lassen kann. Nahezu alle, die mal einen Käfer im Schlafzimmer gesehen haben, schreiben einen Aufsatz über Franz Kafka. Es gibt gebundene Neuausgaben seiner Werke, die man allerdings auch schon für 99 Cent als E-Book herunterladen kann.

Für 99 Cent den ganzen Kafka. Einerseits zeigt das, dass die historischen Arbeiterbildungskampagnen und die Bücherbusse nach mehr als 100 Jahren endlich erfolgreich waren – „Macht unsere Bücher billiger!“, forderte 1932 Kurt Tucholsky von seinem Verleger Ernst Rowohlt. Andererseits aber schaudert es den Bibliophilen doch, wenn man für den Preis einer Schachtel Zigaretten achtmal das Gesamtwerk von Kafka kaufen kann. Im Kapitalismus ist bekanntlich das, was nichts kostet, auch nichts wert. In diesem Sinne widerlegen die urheberrechtsfreien Werke von Kafka, Balzac oder Goethe sogar den Kapitalismus.

Weil auch ich manchmal Käfer im Schlafzimmer sehe, vor allem wenn das Fenster gekippt ist, lege ich auch ein Kafka-Bekenntnis ab: Kafka hat mich zu Max Brod gebracht. Als ich als junger Mensch Nietzsche, Hesse und Kafka las – alle im Alter vernünftigen Menschen haben in der Jugend diese Schriftsteller gelesen –, lernte ich, dass Kafkas engster Freund Max Brod all seine unpublizierten Manuskripte vor der von K. selbst gewünschten Vernichtung gerettet hatte. Brod entkam 1939 mit knapper Not den Deutschen, als die Wehrmacht die sogenannte Rest-Tschechei besetzte, sein Bruder Otto wurde, wie sehr viele Prager Juden, in Auschwitz ermordet. In einem Koffer nahm Max Brod Kafkas Manuskripte mit nach Palästina.

Ich begann zu sammeln, nein, nicht Kafka, sondern Brod. Der Freund war selbst Schriftsteller, Essayist und Librettist (für Leoš Janáčeks Opern). Er war im alten Prag ein Autor von einiger Reputation, heute ist er, wenn es nicht um Kafka geht, weitgehend vergessen (dennoch gibt es Neuauflagen einiger seiner Bücher im verdienstvollen Wallstein-Verlag). In meinem Regal stehen allerhand Brodiana, nicht nur, aber auch Erstausgaben, von seinen frühen Erzählungen „Tod den Toten“ über die etwas fragwürdigen Liebesromane und die historischen Biografien bis hin zu etlichen Schriften über das Judentum. Kafka war für mich eine entfernte, fast mythische Figur; Max Brod dagegen ein Mensch, der schreiben wollte und es auch konnte, aber manchmal darunter litt, dass er nicht die Anerkennung fand, die er sich wünschte. Welche Autorin, welcher Schreiber kennt diese Erfahrung nicht: Bin ich „gut“ genug, kann ich in Worten ausdrücken, was ich fühle, bilde ich mir etwas ein, was andere nicht in mir sehen? Kann ich „es“ überhaupt?

Die sechsteilige Nahezu-Biografie von Franz Kafka, die gerade in der ARD – Jubiläumskartell! – lief und jetzt in der Mediathek wohnt, war für mich ein seltsames Erlebnis. Klar, es war keine Dokumentation, sondern ein langer, in Teile zerlegter Spielfilm, eine Art historische Literaten-Soap. Die Regie war gut, die meisten Schauspieler (Kafkas Vater besonders) beeindruckend, das Buch von Daniel Kehlmann nach der Biografie von Reiner Stach für diesen Zweck sehr gelungen. Aber ich hatte andere Vorstellungen.

Der Fernseh-Brod sah nicht so aus, er trat nicht so auf, wie er sich in meinem Hirn, genährt von über die Jahrzehnte Tausenden gelesenen Brod-Seiten, „entwickelt“ hatte. Er erschien mir als zu naiv-begeistert, als ein Mann, von dem der Zuschauer nicht sagen konnte, warum und wie er geschrieben hatte, was der Leser kannte. Bei der Figur Kafka ging es mir nicht ganz so, zumal da der Urkonflikt mit dem Vater im Film sehr plastisch wurde. Jedenfalls kollidierte meine Vorstellung immer wieder mit der filmisch umgesetzten Vorstellung der Autoren der Serie. Das ist bei irgendwie auch dokumentarischen Filmen oft der Fall. Aber wenn es um Kafka, Brod und Werfel geht, Gestalten, die durch ihre nachlesbare Arbeit gleichsam zum öffentlichen Besitz geworden sind, ist die Wahrscheinlichkeit vielfältiger Kollisionen noch größer. Das, wie man heute so schön sagt, Biopic weckt unangenehme Gefühle, obwohl es „gut“, innovativ, fesselnd und interessant ist.

Natürlich ist dies eine höchst subjektive Betrachtungsweise. Aber die Wahrnehmung eines Films, eines Buchs, eines Theaterstücks ist nun einmal subjektiv – unabhängig davon, dass Generationen von Kritikern, Autorinnen, Intendanten und Professorinnen nach objektiven Kriterien für die Betrachtung von Kunst gesucht haben. No such thing.

Neulich war ich im Münchner Residenztheater in einer Aufführung von Thomas Bernhards „Minetti“. Sie wissen schon (und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm): Der alternde Schauspieler Minetti wartet in einem Hotel in Ostende auf einen Schauspieldirektor, der nie kommt. Es ist ein grandioser Monolog der Verzweiflung des Alten, den man lieben muss, wenn man Bernhard liebt. Minetti wurde gespielt von Manfred Zapatka, 81, der so minettisch war, wie es nur Minetti selbst sein konnte. Grandios. Und obwohl ich von Minetti eine klare Vorstellung hatte, ist Minetti von nun an für mich Zapatka. Anders als Max Brod im Fernsehen.
Kurt Kister
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