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Liebe/r Leser/in,

sollten Sie gestern Vormittag die Bundestagsdebatte verfolgt haben, waren Sie Zeuge der Kanzlerwerdung von Olaf Scholz. Der Sozialdemokrat ist noch keine 100 Tage im Amt, seit gestern führt er das Land tatsächlich. 

Hineingekommen vor allem wegen der gravierenden Wahlkampffehler seines Gegners Armin Laschet. Und als Scholz gewählt und vereidigt war, da schwieg er erst einmal unerträglich lange. 

Gestern dann eine Regierungserklärung, die heute bereits als historisch bezeichnet wird: Angesichts des Überfalls Russlands auf die Ukraine sprach Olaf Scholz im Bundestag von einer „Zeitenwende“. Plötzlich war klar, dass seine Kanzlerschaft ein Thema gefunden hatte. Merkels Krisen waren Klima, Finanzen und Corona, Scholz’ Krise ist der Krieg im Osten und die daraus resultierende Neuordnung Europas. Noch steht nicht fest, ob Putin seinen aggressiven Feldzug stoppen wird und wo die Grenzen nach diesem Krieg verlaufen werden. 

Die Zeitenwende ist auch innenpolitisch eine Wende vieler Gewissheiten: Die SPD, die bis zuletzt erbittert über die Anschaffung bewaffneter Drohnen stritt, muss mit dem 100-Milliarden-Euro-Paket das größte Reformprojekt der Bundeswehr seit Jahrzehnten mittragen. Ziel: die Ertüchtigung der Landesverteidigung. 

Die Grünen verstanden sich seit ihrer Parteigründung als Pazifisten, jetzt müssen ihre Minister Waffen liefern. Um die Energieversorgung zu sichern, werde er eine weitere Nutzung der Atomenergie nicht „ideologisch abwehren“, sagte ausgerechnet Wirtschaftsminister Robert Habeck am Wochenende. Sein Ministerium prüfe die Möglichkeit längerer Laufzeiten von Kohle- und Atomkraftwerken.

Die FDP hatte ihren Wählern einen soliden Haushalt versprochen. Ihr Finanzminister nimmt jetzt neue Schulden auf. Angekündigt ist ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro, und künftig werden mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgegeben.

Alle drei Parteien hatten einen anderen Plan. Als sie die Ampel schmiedeten, hießen die großen Herausforderungen Klimawandel und Folgen der Corona-Pandemie. Keine 100 Tage später ist die Welt eine andere: Klimawandel und Corona – so groß die Themen auch sein mögen, der Krieg in Europa stellt alles in den Schatten. 

Ich wünsche Ihnen einen zuversichtlichen Start in diese Woche!

Mit vielen Grüßen

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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