Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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8. Dezember 2024
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
es ist nicht das schönste der deutschen Weihnachtslieder, aber eines der bekanntesten. Es ist 150 Jahre alt, der Lehrer und Theologe Friedrich Wilhelm Kritzinger aus Lehnin in Brandenburg hat es gedichtet. Es beginnt mit den Zeilen: „Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit“. Richtige Weihnachtszeit war es noch nicht, aber es war immerhin Advent, also Vorweihnachtszeit, als in der vergangenen Woche, in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, zu nachtschlafender Zeit, nämlich morgens um halb Vier, drei Mannschaftswagen der Polizei an der evangelischen Zionskirche in Bremen-Neustadt vorfuhren, um dort den Flüchtling Ayoub aus dem Kirchenasyl im Gemeindezentrum herauszuholen und zur Abschiebung zum Flughafen zu fahren. 

Stachel im Fleisch der staatlichen Asylpolitik
Und was soll nun das Weihnachtliche daran gewesen sein? War es weihnachtlich, dass sich hundert Christenmenschen dieser Abschiebung entgegengestellt und sie verhindert haben? War es weihnachtlich, dass diese Christenmenschen das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums im Kopf und im Sinn und im Herzen hatten, in dem es heißt: „Ich war fremd und ihr habt mich beherbergt.“ Es handelt sich um die Kernsequenz der christlichen Botschaft, in der Jesus dann sagt: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das Kirchenasyl war und ist ein Versuch, der Radikalität des Evangeliums nach sorgfältiger Prüfung gerecht zu werden. Der junge Flüchtling Ayoub war, so hatte es die Kirchengemeinde recherchiert und in einem Härtefalldossier nachgewiesen, ein besonderer Notfall. Dessen Not hatten aber die Behörden nicht sehen und nicht registrieren wollen. Ist es weihnachtlich, dass Gemeindemitglieder mit Schlafsäcken und auf Isomatten in der Kirche schlafen, um ihren Schützling zu schützen? Gewiss: Es mag in diesem Kirchenasyl noch etwas von der Kraft des Heiligen und von der Aura des Heiligen Orts stecken, aber die Kirchen fordern hier kein sakrales Recht, das über dem staatlichen stünde. Es sind die Menschen in den Gemeinden, es ist ihre Bereitschaft, Kosten und Risiken zu übernehmen, die schützt. 

Der Staat hat das Kirchenasyl bisher akzeptiert, weil der Staat sich dessen bewusst ist, dass seine Prüfungen und Urteile in Ausnahmefällen fehlerhaft sein können. Dieses Bewusstsein wiederum gehört zur Identität eines demokratischen Rechtsstaats. Darum ist das Kirchenasyl kein rechtsfreier Raum, sondern ein Freiraum, den die Kirchen dem Staat zur Verfügung stellen, um in Härtefällen seine Entscheidung zu überprüfen. In diesem Sinn beruhte das Kirchenasyl jahrelang auf verbindlichen Absprachen zwischen Kirchen und Staat. Das Kirchenasyl ist indes der Stachel im Fleisch der staatlichen Asylpolitik, die sich, auch im liberalen Bremen, immer schärfer und immer kompromissloser geriert, weil ihr die immer radikaler werdende rechtsextreme Partei AfD im Nacken sitzt. Deswegen mehren sich die Fälle, in denen das Kirchenasyl vom Rammbock der Polizei gebrochen wird. In meinem heutigen SZ-Plus-Text „Prantls Blick“ analysiere ich, auf welchen Überlegungen, Grundlagen und Traditionen das Kirchenasyl beruht.
SZPlus Prantls Blick
Kirchenasyl: Aufbegehren gegen eine Politik, die sich von der AfD treiben lässt
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"Oh wenn die Glocken erklingen, schnell sie das Christkindlein hört“ heißt es in dem Weihnachtslied, und „Ist als ob Engelein singen“. Aber es hörte sie in diesem Fall nicht das Christkindlein, sondern der bremische Innensenator Ulrich Mäurer von der SPD – und der war empört. Der Gemeindepastor Thomas Lieberum hatte nämlich alarmierend und protestierend die Kirchenglocken läuten lassen. Das sei, erklärte der Innensenator, „an Zynismus nicht zu übertreffen“. Man kann sich freilich schon fragen, was sich an Zynismus nicht überbieten lässt: Das Läuten der Kirchenglocken oder eine Asylpolitik, die sich von Rechtsextremisten treiben lässt.

Ich wünsche Ihnen Vorweihnachtstage, in denen Sie ein wenig von der Seligkeit spüren, von der in den Weihnachtsliedern die Rede ist.

Ihr 
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Es stand ein Mann am Siegestor
Erich Mühsam, der Mann mit dem wilden Bart und dem Wuschelhaar, war ein unbändiger Rebell und ein unendlich generöser und gütiger Mensch. Er gehörte zum Führungszirkel der Revolutionäre der Münchner Räterepublik. Der Apothekersohn aus Lübeck war ein Anarchist, er war ein genialer Dichter, er war ein sensibler Poet, er war ein Visionär, der zusammen mit seiner Frau „Glück und Frieden aufrichten“ wollte. Er war einer, der mit dem kleinen und großen Pathos wunderbar jonglieren konnte. 

Erich Mühsam war unmäßig in vielen Genüssen, er liebte die erotischen Abenteuer. Aber noch mehr liebte er seine Frau Kreszentia, genannt Zenzl, geborene Elfinger, eine Bauers- und Landwirtstochter aus Haslach bei Au in der Hallertau. Sie war eine unglaublich starke und mutige Frau, über die man aber bislang nicht besonders viel wusste. Die Biografien beschäftigen sich vor allem mit ihm, kaum mit ihr. Das hat sich mit diesem Buch geändert, das ich Ihnen sehr ans Herz legen möchte: Es ist dies eine wunderbar erzählerische Biografie des mutigen Ehepaars Erich und Zenzl Mühsam, das deutsche Geschichte bitter erlitten hat. Vor hundert Jahren malte und schrieb Erich seiner Zenzl aus der Festungshaft, um deren Beendigung sie sich kämpferisch bemühte, ein unendlich liebevolles Bilderbuch. Vor neunzig Jahren wurde er von SS-Männern im KZ Oranienburg bestialisch ermordet. Zenzl ließ sich dann, auf der Flucht vor den Nazis, nach Russland einladen – um dort von den terroristischen Säuberungswellen Stalins erfasst und zwanzig Jahre lang drangsaliert zu werden.

Wer Erich Mühsam auch nur ein wenig kennt, der kennt sein Gedicht über den „Revoluzzer, im Zivilstand Lampenputzer“, aus dem Jahr 1907, das er im Untertitel kritisch „Der deutschen Sozialdemokratie“ gewidmet hat. Das erste Gedicht, das ich von ihm kannte, und das ich bis heute gern mag, ist freilich ganz und gar unpolitisch, aber von anrührend fröhlicher Melancholie: „Es stand ein Mann am Siegestor / der an ein Weib sein Herz verlor. / Schaut sich nach ihr die Augen aus, / in Händen einen Blumenstrauß. Zwar ist das nichts Besunderes. / Ich aber – ich bewunder es.“ Meinen Blumenstrauß überreiche ich hier Rita Steininger, der Autorin dieser Ehepaar-Mühsam-Biografie. Dem Buch stellt die Autorin als Motto und Titel ein Zitat aus einem Gedicht von Erich Mühsam voraus: „Warum ich Welt und Menschheit nicht verfluche? – Weil ich den Menschen spüre, den ich suche!“

Rita Steininger: Zenzl und Erich Mühsam. Das Buch hat 264 Seiten und 43 Abbildungen. Es ist 2024 als Band 53 in der verdienstvollen Reihe „Geschichte & Frieden“ des engagierten Verlegers Helmut Donat im Donat-Verlag Bremen erschienen und kostet 19,80 Euro
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SZPlus
München ist (noch?) nicht so weit
Religion war so oft Schmiermittel für den Krieg. Sie so zu missbrauchen, ist eine Todsünde. Religion kann, soll, muss Lehrmeisterin für den Frieden sein. Das ist ihre Aufgabe, das ist ihr Seinsgrund. Michael von Faulhaber sah das anders. Er war in München von 1917 bis 1952 erst Erzbischof, dann Kardinal. Als Feldprobst, also als Militärbischof im Ersten Weltkrieg, verglich er den Krieg mit der „Erscheinung des Herrn im Dornbusch, die uns lehrt, vor dem Heiligtum in Ehrfurcht die Schuhe von den Füßen zu ziehen“. Für ihn waren die biblischen Erzählungen ein Fundus für ideologische Kriegsaufrüstung.

Aber nicht deshalb tobt in München eine Debatte über die Umbenennung einer Straße im Stadtzentrum mit seinem Namen. Es geht dabei um seine Haltung zu Hitler und dem Hitlerismus, die sehr zwiespältig war. Faulhaber begrüßte Hitlers Machtergreifung, nannte die gescheiterten Attentate von Elser und Stauffenberg auf den Diktator „ruchlose Verbrechen“ und ließ im Dom aus Dankbarkeit für die Rettung Hitlers ein Te Deum anstimmen. Er hielt andererseits auch fest zu einem katholischen Widerstandskämpfer wie Fritz Gerlich. In Würzburg ist der dortige Kardinal-Faulhaber-Platz im Jahr 2022 umbenannt worden. München ist – noch? – nicht so weit. Andreas Wirsching, der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, hat sich soeben in einem SZ-Interview am vergangenen Freitag gegen eine Umbenennung ausgesprochen. Das Interview ist ebenso differenziert wie lesenswert.
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