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Liebe/r Leser/in,

für mich hat das, was US-Präsident Joe Biden vor einer Woche in Warschau über Putin gesagt hat, eine moralische und eine historische Dimension: „Um Gottes willen – dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben!“

Bidens Satz sagt, was auch ich denke und fühle. Man mag es sich ja in der Tat nicht vorstellen, dass Wladimir Putin Herrscher im Kreml bleibt, nachdem er so viel Zerstörung, Tod und Leid über ein Nachbarland gebracht hat – ein Land, das ihm und seinem Volk nichts angetan hatte.

Historisch erinnert mich Bidens emotionaler Ausbruch in Warschau an Präsident Ronald Reagans berühmte Rede am 12. Juni 1987 in Berlin vor dem Brandenburger Tor: „Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer ein!“ Während Reagan dafür zunächst belächelt wurde, erntet Biden heute viel Kritik. Große Wahrheiten werden nicht immer von allen gleich erkannt.

Wenn jemand Bidens Verdikt über Putin aus vollem Herzen zugestimmt haben dürfte, dann der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Umso erstaunlicher – auf den ersten Blick jedenfalls – ist es, dass Selenskyj der ukrainischen Delegation für die Annäherungsgespräche mit Russland vor allem ein Ziel vorgegeben hat: ein Treffen zwischen ihm und Putin herbeizuführen (neben einem Waffenstillstand natürlich). Er argumentiert: Nur zwischen ihm und Putin könnten die Ergebnisse erzielt werden, die sein Volk für eine Zukunft in Frieden und Sicherheit benötige.

Frieden schließen mit einem Kriegsverbrecher? Ein schwer erträglicher Ge­­danke, insbesondere für westliche Gesellschaften, die glauben, dass das Gute und Gerechte siegen sollte. Und doch muss er gedacht werden. Denn Putin mag den Feldzug gegen die Ukraine nicht erfolgreich beenden können, aber Russland wird auch nicht militärisch besiegt werden. Das aber wäre die Voraussetzung dafür, Putin zur Rechenschaft zu ziehen, ihn vor ein Tribunal zu stellen wie einst Naziverbrecher in Nürnberg oder später andere Kriegstreiber in Den Haag. Dort wird Putin aller Wahrscheinlichkeit nach selbst dann nicht landen, wenn man ihn in Moskau wegen des gescheiterten Krieges gegen die Ukraine und den verheerenden Folgen der westlichen Wirtschafts- und Finanzaktionen aus dem Kreml jagen sollte.

Ein schnelles Ende des Krieges gegen die Ukraine kann es also wohl nur mit Putin geben – ungeachtet der großen Zweifel, ob der Mann dauerhaft zum Frieden überhaupt fähig ist. Deutschland, die Nato und die EU könnten bei einem vertraglich vereinbarten Kriegsende vor schwierige Fragen gestellt werden, wie zum Beispiel: Heben wir die Sanktionen gegen Putin und seine Helfer nach einem Truppenabzug aus der Ukraine wieder auf? Das könnte ja eine Bedingung Moskaus sein. Oder: Halten wir an der Absicht fest, auf das vergleichsweise billige Erdgas aus Russland so schnell wie möglich zu verzichten, wenn der Pulverdampf des Krieges sich verflüchtigt hat und ein Modus Vivendi zwischen der Ukraine und Russland gefunden wurde?

Fragen von hoher moralischer und ökonomischer Komplexität, die uns auf die Probe stellen werden. Doch auch nach dem – hoffentlich schnellen – Ende des Krieges in der Ukraine bleibt der moralische Anspruch richtig, für den Bidens Putin-Satz in Warschau steht. Gut, dass der US-Präsident es abgelehnt hat, sich dafür zu entschuldigen. Aber auch er sitzt möglicherweise in der Zukunft wieder an einem Tisch mit Putin – als Garant eines Waffenstillstands- oder sogar eines Friedensabkommens.

Zum Schluss zwei gute Nachrichten: Knapp zwei Jahre nach Einführung der Maskenpflicht im öffentlichen Raum wird dieser gesetzlich angeordnete Corona-Schutz in Deutschland so gut wie abgeschafft. In 14 von 16 Bundesländern gilt ab dem Wochenende nur noch unter eng begrenzten Umständen die Pflicht, eine Schutzmaske zu tragen. Dieses langersehnte Freedom-Weekend ist für uns ein Grund, mal richtig durchzuatmen – und wir blicken im Wirtschaftsressort zurück: Wer waren eigentlich die Profiteure der Pandemie? Lesen Sie den spannenden Report meines Kollegen Markus Krischer ab Seite 54.

Und noch etwas in eigener Sache: Auch im Jahr 2022 gewinnt FOCUS beim European Publishing Award. Rund 300 Projekte aus 16 Medienmärkten waren ins Rennen um den prestigeträchtigen Preis gegangen – und in den für ein Nachrichtenmagazin wichtigen Kategorien „Politics & Society“ sowie „Infographic“ wurden wir wie schon im Jahr zuvor ausgezeichnet! Danke und Gratulation, liebe FOCUS-Redaktion!

Mit vielen Grüßen,

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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