leiden Sie in diesen Tagen auch an Erschöpfung? Das muss noch kein ausgemachter Herbst-Blues sein, auch Stresssymptome durch Abstiegsangst oder gar Long Covid müssen nicht automatisch als Erklärung herangezogen werden. Oft reicht schon ein Blick in die Welt dort draußen, um zu verstehen, dass eine gewisse Mattigkeit geradezu in der Luft liegt. Denken Sie nur mal an die Kunst: Die Autonomie-Idee der Kunst hat sich erschöpft, sagt etwa der renommierte Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich im Interview mit Cicero und deutet somit die Diskussion um antisemitische Kunstwerke auf der Documenta 15 als Symptom eines sich wandelnden und irgendwie kraftlos gewordenen Kunstbegriffs. An die Stelle des unabhängigen Werkes sei mehr und mehr die Vorstellung einer vernetzten, situativen Kunst getreten, die ein soziales Anliegen vermittelt. Und damit kommt eben auch Müdigkeit und Erschöpfung in den Diskurs. Oder denken Sie an Corona: Die Pandemiepolitik der letzten zweieinhalb Jahre ist doch nicht spurlos an Ihnen vorbeigegangen. Kritik entzündete sich vor allem an der Frage: Welche Freiheitseingriffe sind zum Schutz vor Covid-19 verhältnismäßig? Die Soziologin Sandra Kostner hat dieser Frage ein ganzes Buch gewidmet; ein Sammelband, in dem sie befürchtet, dass mit der Covid-Politik ein gefährlicher Geist aus der Flasche gelassen wurde, der jetzt kaum mehr einzufangen ist. Es drohe ein gesellschaftliches Long Covid, so Kostner. Und Sie wundern sich noch, dass Sie in diesem Herbst so müde sind? Derweil gibt die Politik doch auch keinen wirklichen Kick. In Niedersachsen zum Beispiel ist die FDP mal wieder aus dem Landtag geflogen - wie schon 1970, 1978, 1994 und 1998. Nichts Neues unter der Sonne. Für manchen Wähler war die Partei in der Hannoveraner Opposition offenbar mal wieder nicht sichtbar genug. Andere wollten bei der Wahl ein Zeichen gegen die Ampel in Berlin setzen. Doch für die Bundes-FDP reicht es nun nicht, nur ein bisschen lauter aufzutreten, um ihre Probleme zu lösen. Die Partei steckt zunehmend in einer Falle. Zuspitzen hilft eben nicht, meint Cicero-Autor Michael Freckmann in seiner Parteianalyse. Und der Krieg? Für den Soziologen Wolfgang Streeck haben Diplomatie und Deeskalation im Ukraine-Konflikt angesichts der immer realer werdenden nuklearen Bedrohung oberste Priorität. Im Cicero-Interview erklärt er, warum man die „wertebasierte“ deutsche Außenpolitik nicht beim Wort nehmen kann, welche Motive hinter der derzeitigen Eskalationsspirale stecken und wohin Deutschland wie Europa innerhalb einer neuen Weltordnung zu treiben drohen. „Es gibt keine europäische Friedensordnung ohne Russland“, so Streeck im Interview. Es scheint also alles irgendwie verflixt und verfahren zu sein. Geradezu einschlafen könnte man in Anbetracht der Müdigkeit der Welt. Da aber kommt aus Rheinland-Pfalz doch noch etwas Bewegung in die Weltgeschichte hinein: Nach dem katastrophalen Versagen bei der Flutkatastrophe im Ahrtal trennt sich Rheinland-Pfalz' Ministerpräsidentin Malu Dreyer schweren Herzens von ihrem Schutzpatron, Innenminister Roger Lewentz. Man möchte mit Cicero-Autor Jens Peter Paul geradezu munter werden und jubilieren. Doch ach, schon setzt Autor Paul einen Dämpfer! Völlig unbeleuchtet, medial wie staatsanwaltschaftlich, bleibt nach wie vor nämlich das Organisationsversagen der Ministerpräsidentin – was sie ihrem jahrzehntelang aufgebauten Machtkonstrukt zu verdanken hat. Auch der Rücktritt geht für unseren Autor also am Problem vorbei. Ihr Ralf Hanselle, stellvertretender Chefredakteur |