Milliarden für den Süden | Ein Hoch auf die Viren | Wie in der DDR
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Stimme
des Westens

Moritz Döbler

20. Mai 2020

Liebe Frau Do,

am späten Dienstagabend hat die NRW-Landesregierung weitere Lockerungen verkündet. Ab heute dürfen Tattoo-Studios wieder öffnen. Bei Hochzeitsgesellschaften sind wieder Personen zugelassen, die nicht direkt zur Familie oder einem zweiten Haushalt gehören. Und Picknick im Freien ist auch wieder erlaubt. Alles natürlich unter der Voraussetzung, dass der Mindestabstand von 1,5 Metern zwingend eingehalten wird.

Die Corona-Krise hat Warteschlangen vor Geschäften und Gaststätten hervorgebracht, wie wir sie zuletzt aus der DDR kannten. Können Sie etwas Gutes daran finden? Einem Werber wie Christian Rätsch, Chef der Agentur Saatchi & Saatchi in Düsseldorf, fällt das nicht schwer, wie das Interview mit ihm über Werbung in Corona-Zeiten zeigt. „Warteschlangen sind ein Indiz für Qualität.“ Womit dann auch die in der DDR übliche Strategie zu empfehlen wäre, sich erst anzustellen und dann zu fragen, was es zu kaufen gibt.

Von der Planwirtschaft zu einem Plan für die Wirtschaft, den Angela Merkel und Emmanuel Macron gemeinsam vorgelegt haben. Die Kanzlerin und der Präsident wollen der EU-Kommission erlauben, an den Finanzmärkten 500 Milliarden Euro als Kredite aufzunehmen, um das Geld an besonders krisengebeutelte Staaten vor allem im Süden weiterzureichen. Die Details können Sie hier nachlesen. Sich eine Meinung zu bilden, finde ich gar nicht so leicht. „Europa, das die Idee von Wohlstand und Frieden eint, ist es wert“: Diesen Satz im Leitartikel unserer stellvertretenden Chefredakteurin Eva Quadbeck unterschreibe ich sofort aus ganzem Herzen. Und doch wird mir bei diesen Dimensionen unwohl.

Denn spätestens seit der Finanzkrise lautet unsere Antwort, stets noch mehr Geld in die Wirtschaft zu pumpen. Die Niedrigzinsen machen es möglich, aber werden damit nicht zuhauf marode Strukturen und Geschäftsmodelle gestützt? Und wer soll das am Ende alles bezahlen? Denn Kleinvieh macht auch Mist: So haben Bund und Länder in der Corona-Krise bisher an rund 1,5 Millionen kleine Unternehmen und Selbstständige staatliche Soforthilfen ausgezahlt. In Summe sind das bereits rund zwölf Milliarden Euro, wie unsere Berliner Finanzkorrespondentin Birgit Marschall erfahren hat, und das ist nur eines der vielen Instrumente. Trotz der Hilfen und auch nach den Lockerungen kommt aber zum Beispiel der Einzelhandel nicht wieder richtig auf Trab, wie Antje Höning und Florian Rinke recherchiert haben.

Schuld an der Lage ist eine globale Pandemie oder vielmehr die Sorge, die sie ausgelöst hat. Vielleicht gefällt es Ihnen gerade jetzt, ein Hoch auf die Viren zu lesen. Meine Kollegin Regina Hartleb beschreibt sie als Motoren der Evolution, die auch Gutes hervorbringen. Mit dieser Haltung könnten wir heute gemeinsam in den Tag starten, indem wir auch für die ärgerlichen Dinge, die uns widerfahren, dankbar sind – selbst für die eingangs erwähnten Warteschlangen. Denn das Gute im Schlechten macht auch Freude.

Herzlich

Ihr

Moritz Döbler

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