Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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3. November 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
meine Oma hat immer gesagt, es solle jeder nach seiner Fasson selig werden. Andere Leute behaupten, diese Erkenntnis stamme vom Preußenkönig Friedrich II., der auch „der Große“ genannt wird, obwohl Österreicher, Sachsen und manche andere keinen Anlass dazu hatten (und haben), den angriffskriegführenden Fritz so zu bezeichnen. Meine Oma jedenfalls führte keine Angriffskriege, auch wenn sie Mitte Dezember manchmal meinen großen Bruder sehr beschimpfte, wenn der wieder einmal die von ihr gebackenen und dann für Weihnachten versteckten Nusskuchen aufgestöbert und vorzeitig verspeist hatte.

Ich jedenfalls denke immer dann an meine Oma und daran, dass jeder und jede im Rahmen des Anständigen machen kann, was er oder sie will, wenn ich in einem Buchladen die nahezu Hekatomben von Selbsthilfe- und Beratungsbüchern sehe. Ich habe außer der Bibel und etlichen Philosophen, größeren und kleineren, nie ein Lebenshilfe-Buch gelesen. So möchte ich das auch bis zu meinem Lebensende halten. Aber selbstverständlich achte und respektiere ich alle Menschen, die Lebenshilfetexte, Besinnungsbücher oder überhaupt Dinge lesen oder schreiben, deren Titel gerne mit Fragewörtern beginnen („Wie man glücklich wird“ oder „Warum Männer doof sind“). Hätte ich diesen Grundrespekt vor publizistischer Fremd- und Selbsttherapie nicht, dürfte ich auch als leicht nörgeliger Rentner nicht in einem Teil der Zeitung noch gelegentlich schreiben, in dem ein Unterteil „Liebe und Leben“ heißt.

Jedenfalls las ich neulich in genau diesem Unterteil ein Interview mit Oliver Burkeman. Ich kannte den Mann vorher nicht, was eben daran liegt, dass ich nach meiner Fasson im Buchladen die Optimierungsregale immer schnell passiere. Burkeman, so sagt mir der Welthirnherrscher Google, sei ein Kolumnist des Guardian und schreibe Bücher über Glück und Zeit. Ich bin auch Kolumnist, finde mich aber eher dem Unglück verbunden sowie der Unzeitigkeit. Auf der Website des Piper-Verlages, in dem Burkeman auf Deutsch erscheint, stehen für Burkeman unter dem Begriff „Genre“ unter anderem Endlichkeit, Zeitbewusstsein, carpe diem und Sinn des Lebens.

Klar, das haben, verzeihen Sie das scharfe Urteil, irgendwelche Marketing-Schwätzer (vielleicht auch Schwätzerinnen) verfasst. Als ich früher noch eine Art Manager war, jagten diverse Geschäftsführer immer wieder jede Menge solcher Leute bei etwelchen meetings auf mich und andere. Wir sollten dann auf Zettel schreiben, was wir für den Sinn des Lebens oder mindestens für den Sinn der Zeitung hielten, und diese Zettel auf Tafeln befestigen, sodass dann alle Teilnehmer und Innen farbige Punkte dahin kleben konnten, wo sie den Sinn des Lebens besonders gut getroffen fühlten. Ich werde nicht gerne alt, aber dass ich an so einem Humbug nicht mehr teilnehmen muss, ist ein großer Vorteil des Nicht-mehr-Managerseins.

Burkeman also wurde in dem Interview zum gegenwärtigen Overload unangenehmer Dinge befragt. Selbst mir, der ich bestimmt nicht das Glück oder auch nur die Zufriedenheit für den Normalzustand halte, ist es gerade etwas viel: Kriege, Rechtsradikale, Islamisten, Antisemitismus, Social-Media-Hass, Ausbreitung der Dummheit ganz generell etc. Der Guardian-Kolumnist sprach sich für den Umgang mit diesen Monstern für eine interessante Möglichkeit aus, die er schon bei den Stoikern im alten Athen gesehen haben will. Man solle sich „den schlimmstmöglichen Ausgang der Ereignisse“ vorstellen. Meistens gingen sie dann doch nicht so schlimm aus, sodass dies die Situation besser erträglich mache. Die Seuche, also die Corona-Pandemie, sei ein Beispiel dafür.

Das ist richtig. Wenn man aber andererseits zu denen gehörte, die an der Seuche starben, hätte man von der Geisteshaltung der Stoa nicht profitieren können. Die Möglichkeit, Wege, wenn auch gewundene, aus einer schwierigen Situation heraus zu finden, ist immer ein Privileg der Überlebenden im weitesten Sinne. Das Leben lässt sich schwer verbessern, wenn man tot ist.

Vielleicht gibt es ja auch irgendwo in diesen Regalen, die ich bisher in den Buchhandlungen zu wenig beachtet habe, Bücher, die nicht nur den Lebenden Ratschläge geben, sondern auch den Toten. Die lesen zwar nicht mehr, nehme ich jedenfalls an. Aber nüchtern gesehen steht allen, die lebend „Die Kraft der Wertschätzung“ oder „Wie du Menschen loswirst, die dir nicht gut tun“ lesen, der Tod bevor, früher oder später. Es gibt viel mehr Tote als Lebende, also sind Erstere ein viel größeres Publikum, theoretisch jedenfalls. (Ob die Verknüpfung von „es gibt“ und „Tote“ zulässig, sinnvoll und/oder logisch ist, müsste man in einem Buch – bei Piper? – oder mindestens in einem Feuilletonaufsatz – in der Zeit? – untersuchen. „Gibt“ es überhaupt Tote, deren Sein ja durch das Ende der Existenz definiert ist, es sei denn, man glaubt an Metaphysisches wie Seele etc.?)

Sie sehen, ich beschäftige mich auch mit der Endlichkeit. Und dass vieles schlimmer wird, als ich mir es zunächst vorgestellt habe, habe ich in meinen Jahren in der SZ-Chefredaktion selbst erlebt. Danach habe ich immer angenommen, es würde noch schlimmer. Oft war es dann leider so. In der Welt ist es im Moment genauso. Vielleicht sollte ich ja mal ein Ratgeber-Buch schreiben.
Kurt Kister
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