| Guten Morgen,
Parteivorsitzende braucht die SPD seit einiger Zeit nur noch als Blitzableiter, also um sich abzureagieren. Das gelingt der Partei jedenfalls weitaus überzeugender als die Auseinandersetzung mit der politischen Konkurrenz. Es lässt sich nicht mal mehr sagen, dass die Personaldebatten der SPD zusätzlich schaden – den Leuten draußen ist es inzwischen egal, wen die Partei gerade zur Sau macht und durchs immer kleiner werdende Dorf treibt.
Dazu passt, dass die glaubwürdigsten Worte zum Ausstieg von Andrea Nahles (Aufgabe aller Parteiämter und Rückzug aus dem Bundestag) von Angela Merkel kamen: Die Kanzlerin lobte den „feinen Charakter“ und das „Herzblut“ der früheren Ministerin, die auch als Koalitionspartnerin stets verlässlich gewesen sei.
Politik ist immer ein hartes Geschäft, aber für Andrea Nahles war es zuletzt die Hölle. Was lediglich Vertraute wussten: Als Parteichefin wollte sie eigentlich nur kandidieren, wenn sie ihre Tochter nach Berlin hätte holen können. Doch kurz vor dem Wahlparteitag im April 2018 zog ihr früherer Partner sein Einverständnis zurück – das Kind blieb in der Eifel, Nahles war fortan ständig unterwegs zwischen Berlin und ihrem Heimatort Weiler. Ein hoher Preis, ein großes Opfer.
Der räumlichen Unbehaustheit folgte die politische: In privaten Hintergrundrunden versuchte die frühere Juso-Chefin in Berlin irritierte Banker und Wirtschaftsbosse davon zu überzeugen, dass die SPD die letzte Bastion der marktwirtschaftlichen Mitte sei – während sie draußen von starken Kräften ihrer Partei nach links gezerrt wurde. Hin und her, nie ein fester Stand. Was hielt sie überhaupt?
Kurz vor ihrer Wahl zur Vorsitzenden trug Nahles ein Buch von François Lelord mit sich herum: „Hector und die Kunst der Zuversicht“. Vielleicht dachte sie in den vergangenen Wochen zuweilen an die Ratschläge des zweifelnden, suchenden Hectors: „Schauen Sie nicht zu viel auf die traurigen Dinge, an denen Sie nichts ändern können“, oder auch „Treten Sie ein paar Schritte zurück und schauen Sie auf alles, worin Sie Glück hatten.“ Ein Kapitel heißt übrigens „Die Nacht der Zombieschweine“ – mal sehen, wen die SPD als nächstes zur Sau macht.
Zwei Berliner Stimmen zum Spiel:
1) „Wir beginnen am besten damit, endlich aufzuhören, hässlich, bösartig und hinterlistig miteinander umzugehen. Es reicht.“ (Sawsan Chebli)
2) „Wer mit dem Versprechen nach Gerechtigkeit und Solidarität nun einen neuen Aufbruch wagen will, der darf nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben. Ich schäme mich dafür.“ (Kevin Kühnert)
Die Ziehung der bundespolitischen Lottozahlen wird Ihnen heute präsentiert von Manfred Güllner (Forsa): 7 (Linke), 8 (FDP), 11 (AfD), 12 (SPD), 26 (CDU/CSU), 27 (Grüne), Zusatzzahl 9 (Sonstige).
Und im ZDF-Politbarometer gaben nur 16 % der Befragten an, die SPD präge die Arbeit der großen Koalition – dazu ein Berliner SPD-Funktionär: „In allen Gremien der Partei erzählen wir uns seit Jahren das Gegenteil.“
Der Berliner SPD-Chef Michael Müller fordert unterdessen ein neues Grundsatzprogramm: „Auch mit unseren Beschlüssen zum solidarischen Grundeinkommen, dem Berliner Mietendeckel und der Schwerpunktsetzung ‚digital und sozial‘ hat die Berliner SPD bereits wichtige Impulse gesetzt.“ Der Landesvorstand wurde für heute um 15 Uhr zu einer Telefonkonferenz geladen.
Zwei Kommentare zum Ausgleich:
1) Kritik aus der CDU an der CDU: „Wir zeigen zu wenig Haltung, geben zu wenig Orientierung und wirken in der Kampagne altbacken und langweilig.“ (SH-Bildungsministerin Karin Prien, Q: Tagesspiegel).
2) Kritik aus der FDP an der FDP: „Statt künftig nur die Sorgen von Wutbürgern zu diskutieren, sollten Liberale die Anliegen der jungen Generation in den Focus nehmen. Die Aussage von Christian Lindner, Klimapolitik solle man ‚den Profis überlassen‘, war ein Schlag ins Gesicht von allen jungen Menschen.“ (Berlins Juli-Chef David Jahn, Q: Tagesspiegel).
Und zur allgemeinen Desorientierungen hier noch drei Nachrichten aus der Bundespolitik, die auch gut als Satire durchgehen würden (aber echt sind):
1) Der „Bericht aus Berlin“ kündigt an: „Der aktuellen Nachrichtenlage entsprechend wird es heute um 18:30 Uhr um die Zukunft von SPD und CDU gehen – nicht wie angekündigt um die Debatte, wie die etablierten Parteien wieder junge Menschen erreichen können.“
2) Die „Bild am Sonntag“ meldete: „Unionspolitiker wollen eigene YouTube-Stars aufbauen“ – dabei gibt’s da doch schon genug krasses Material von Bloggerin AKK.
3) Die „Welt am Sonntag“ schreibt: „Söder erwägt Live-Streaming von CSU-Vorstandssitzungen“ – läuft sicher demnächst bei Netflix als Serie in der Kategorie „Heimat/Horror“. | |