Liebe/r Leser/in, manchmal können Umfrageergebnisse verstören. Seltener die Sonntagsfrage: Die FDP bleibt in der Todeszone, die CDU im 30er-Elysium, die AfD zumindest eingefroren. In dieser Woche ist es eine gesellschaftspolitische Frage, die mich zum Nachdenken bringt. Über die Einstellung der Deutschen. Über Richtig und Falsch.
Die Frage lautet: „Halten Sie eine verpflichtende Fahrtauglichkeitsprüfung für Autofahrer ab 70 für sinnvoll?“ Das Meinungsforschungsinstitut Insa hat sie im Auftrag des FOCUS gestellt. Repräsentatives Ergebnis: 57 Prozent der Befragten sagen Ja. Die absolute Mehrheit. Sind die Deutschen prüfungsversessen? Diskriminieren sie gern Alte? Oder quält sie schlicht die Sorge, unsere alternde Gesellschaft schlittere nicht nur in ein Renten-, sondern auch in ein Verkehrsproblem?
Als im März ein 83-jähriger Mann am Potsdamer Platz in Berlin eine Mutter und ihr vierjähriges Kind mit seinem Auto erfasste und sie an den Folgen starben, stritt die Öffentlichkeit tagelang über verpflichtende Tauglichkeitstests. In vielen Ländern sind sie Realität: Spanien, Italien, Finnland, Dänemark – die Mehrheit der EU-Staaten verlangt den Check in unterschiedlicher Frequenz. Denn auch wenn Seniorinnen und Senioren laut Statistik weniger verkehrsgefährdend unterwegs sind als die Anfänger, so steigt das Risiko ab dem 75. Lebensjahr doch signifikant – und an drei Vierteln der Unfälle mit älteren Beteiligten tragen sie die Hauptschuld.
Dies sind die kalten Zahlen, die Pflichttests nahelegen mögen, wenn nicht …
… ja, wenn nicht die Wirklichkeit das Simple mal wieder verkomplizieren würde. Denn in einer Gesellschaft, in der das Pendeln seit Jahrzehnten zum Lebenskonzept von Millionen Menschen gehört, ist das Auto kein Nice-to-, sondern ein Must-have. Mehr als vier Millionen der Älteren wohnen in Regionen, in denen Busse seltener gesehen werden als Störche. Ohne Führerschein verlören viele den Zugang zu Lebensnotwendigem – Supermarkt, Arztpraxis und vor allem: Freunde und Familie. Langzeitstudien zeigen, dass der Entzug der Fahrerlaubnis Einsamkeit, körperlichen Verfall und Depression bringen kann.
Volker Wissing macht es sich allerdings verstörend einfach, wenn er sagt: „Menschen können selbst am besten einschätzen, ob sie noch fahren können.“ Ich weiß nicht, auf welchen Partys der Verkehrsminister abhängt – auf meinen ist das Unsinn. Alle Untersuchungen zeigen außerdem, dass bei älteren Autofahrern – das grammatikalische Maskulinum ist wissenschaftlich belegt – die Kluft zwischen Selbsteinschätzung und Können erschreckend groß ausfällt, gewissermaßen der verkehrspolitische Dunning-Kruger-Effekt: Die Theorie der beiden US-Psychologen beschreibt, warum wenig kompetente Menschen oft das größte Selbstbewusstsein haben.
Wer aber schreitet ein, wenn ich mich eines Tages trotz steifem Nacken und grünem Star für eine immer noch sagenhaft gute Autofahrerin halte? Der Staat? Meine Kinder? Niemand? Ich bin überzeugt, dass der Mensch nur den Mut zur Einsicht in schmerzhafte Notwendigkeiten aufbringt, wenn er Alternativen zum Gewohnten sieht.
Genau die muss die Gesellschaft – und auch Herr Wissing! – dringend finden. |