Liebe/r Leser/in, Sie muss das stoppen. Das war mein einziger Gedanke. Sie muss ihn vor sich selbst bewahren. Ihn und uns. Vor einer Woche hat die Welt 90 Minuten lang in den Abgrund des narzisstischen Selbstbetrugs geblickt. Die Macht des Willens hat bei Joe Biden keine Chance mehr gegen die Macht der Natur. Es ist der älteste Kampf der Menschheit, den der mächtigste Mann des Westens an jenem Abend verlor. Das Leid des Ehepaars Biden wurde 90 Minuten lang grausam grell ausgeleuchtet. Während der Nahaufnahmen auf sein starres Gesicht. Nach dem Debakel, als Jill Biden ihren erschöpften Mann vorsichtig die Treppen zur Moderatorenbank hinunterführte. Und auch, als sie mit ihm auf der After-Show-Bühne stand. Er: mit dem hilflosen Blick eines Kindes. Sie: mit der Hysterie einer verzweifelten Mutter. „Joe, du hast einen großartigen Job gemacht“, rief sie, „du hast alle Fragen beantwortet!“ Die Menge johlte, Äonen entfernt von der Realität – und ich fragte mich: Warum hat sie ihren Mann nicht längst in Sicherheit gebracht? Wie kann sie ertragen, dass er das traurigste Geheimnis ihrer Liebe nicht mehr bewahren kann: seine Schwäche. Jill Biden ist sicher nicht verantwortlich für das Schicksal ihres Mannes. Das ist er allein. Die Ärzte attestieren, er sei im Besitz seiner geistigen Kräfte. Er ist umgeben von Beratern, Vertrauten, Polit-Alphatieren, die sich seit Monaten seinem trotzigen Ego hätten in den Weg stellen können. Keiner tat es. Doch seit dem desaströsen TV-Duell entladen sich Wut und Häme vor allem auf Jill. Dabei hat sie ihre Rolle als Erste Ehefrau immer schon radikal einseitig interpretiert: als Pflicht, ihrem Mann bedingungslos zur Seite zu stehen und ihrer beider Leben dem Wohle der freien Welt zu opfern. So sieht sie es. So spricht sie. Als sei sie Teil einer Sekte. An jenem Abend schrie sie in die Menge: „Wer hat gelogen? Truuuuuump!“ Wer aber, Mrs. Biden, lügt mit jeder erhobenen Wahlkampf-Faust über das Ausmaß des eigenen Gebrechens? Viele Politiker verfallen irgendwann dem Glauben, Worte und Gesten könnten die Wirklichkeit bezwingen. Der französische Präsident will sein Volk mit Neuwahlen zu Gehorsam pressen – und erntet stattdessen Wut samt einer schockierenden Mehrheit für den ganz rechten Rand. Der deutsche Kanzler beschwört das Weiter-so in Richtung rosa Horizont – und stolpert sich durch parteiinternen Widerstand, Milliardenlöcher im Haushalt und landesweite Häme. Im Gespräch mit meinen Kollegen bescheinigt der renommierte Historiker Heinrich August Winkler den liberalen Kräften „moralischen Größenwahn“. Die politischen Eliten liefen Gefahr, „schon in ihrer Sprache am Gros der Bevölkerung“ vorbeizureden, als ob sie sich „haushoch überlegen fühlen“ und erst einmal die Richtung vorgeben müssten. Seine Analyse der politischen Entwicklung tut weh. Sein Trost: Zur Geschichte des Westens gehöre immer auch die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur – „auf diese Fähigkeit setze ich“. Hoffen wir, dass er recht hat. | | Herzlich Ihre Franziska Reich, Chefredakteurin FOCUS-Magazin | |
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