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Wochenende Kurzstrecke |
Tagesspiegel Checkpoint vom Samstag, 16.05.2020 | Bewölkter, windiger Samstag bei 16°C, Sonntag etwas sonniger bei 18°C. | ||
+ So halten es die Bezirke mit Pop-up-Straßenlokalen + Amtsärzte widersprechen Gesundheitssenatorin Kalayci: Welche Teststrategie ist die richtige? + Interview mit Foodbloggerin Mary Scherpe + |
von Julius Betschka |
Guten Morgen, für uns Gäste ist es nur ein kleiner Schritt über die Türschwelle, vielen Gastronomen könnte es die Existenz retten: Seit gestern dürfen Cafés und Restaurants ihre Speisen wieder am Tisch verkaufen. Unseren Espresso können wir wieder auf der Terrasse schlürfen, die Pasta im Lieblingslokal aufgabeln, das freundliche Pils wieder am Tresen trinken. Berlin macht Lockerungsübungen, wir dehnen den Magen – allerdings nur bis 22 Uhr. Es soll nicht zu fröhlich werden, nicht zu gesellig, zu rauflustig oder intim. Das Maß dieser Zeit sind 1,5 Meter Abstand zueinander. Vielen Berlinern kommt die Öffnung der Restaurants deshalb zu früh. Das Ergebnis unserer Umfrage von gestern: 24 Prozent der Checkpointleser können ihren ersten Restaurantbesuch kaum erwarten, 68 Prozent wollen lieber noch abwarten. Liefern lassen, war ja auch gar nicht schlecht – viele haben sich sogar daran gewöhnt, den Boten ein faires Trinkgeld zu zahlen. Gerichte zum Mitnehmen sind vom verpönten Fast-Fastfood zum solidarischen Beitrag für Gastrobranche und Gaumen geworden. Bleibt das so? Weiter unten im Durchgecheckt-Interview sagt Foodbloggerin Mary Scherpe („Stil in Berlin“): „Ich weiß gar nicht, ob es diesen einen Tag geben wird, an dem alles wieder wie vorher ist.“ Warum sie nicht aus dem Häuschen ist, dass die Restaurants wieder öffnen und welche Vorschläge Scherpe für ein kulinarisches „new normal“ hat, lesen Abonnenten der Langstrecke exklusiv. | |||
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Wenn das eh schon volle Berlin sich jetzt wieder zur Draußenstadt wandelt, werden die Abstandsregeln noch schwerer einzuhalten (diese Gastro-Regeln gelten außerdem). Wie soll zwischen Restauranttischen auf Gehwegen und Fußgängern ein Mindestabstand von 1,5 Metern gewahrt werden? Wo Raum knapp ist, muss neuer geschaffen oder, Reizwort, umverteilt werden. Der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat sich längst an die Spitze der Bewegung gesetzt und plant nach Pop-up-Fahrradwegen und -Spielstraßen nun: Pop-up-Gastronomie. Parkplätze zu Futterstellen! Autos raus, Veggie-Wurst rein! Jedes Wochenende von 11 bis 22 Uhr sollen die Stellplätze vor Restaurants und Kneipen zur gemütlichen Asphaltterrasse werden, zur Not können ganze Straßen zur Schankmeile werden. Klingt schwer nach Mallotze. Zumindest die Wirte und ihre Klientel wird’s freuen. Gibt’s ähnliche Pläne auch in den anderen elf Bezirken? Unsere Checkpoint-Pop-up-Umfrage: 1) Tempelhof-Schöneberg beantwortet die Frage schlicht: „Nein“. Man sei überrascht von dem Vorstoß, heißt es, da „der Gemeingebrauch des öffentlichen Raumes durch alle Verkehrsteilnehmenden Vorrang gegenüber den wirtschaftlichen Interessen einer Branche hat“. 2) Lichtenberg diskutiert solche Maßnahmen „aktuell nicht, da individuelle Sondernutzungen im größeren Umfang immer zu Lasten der Allgemeinheit gehen“. 3) Aus Mitte heißt es: „Auf den Straßen werden gastronomische Flächen nur im Ausnahmefall eingerichtet.“ Man werde wohlwollend prüfen, wenn eine Umnutzung durch Baustellen oder Sackgassen „mit wenig Aufwand“ möglich sei. Außerdem wird verkündet: „Angesichts der dramatischen Folgen der Schließung für die gastronomischen Einrichtungen hat das Bezirksamtskollegium angekündigt, nun wieder verstärkt auswärts zu essen.“ Traumjob. 4) In Steglitz-Zehlendorf ist nichts dergleichen in Planung. Anträge zur Erweiterung von Gastronomie-Flächen würden aber „wohlwollend geprüft“. 5) In Pankow soll es keine Sperrungen für Restaurants geben. Temporäre Spielstraßen nach Kreuzberger Vorbild sind aber möglich. 6) In Neukölln erklärt man, das wirtschaftliche Interesse der Wirte zu verstehen. Man dürfe aber „die Anwohnenden nicht vergessen“. Bislang sind deshalb keine Pop-up-Flächen geplant. Die Kreuzberger Schankmeile geht den anderen dann doch zu weit. Und die Bezirke Spandau, Reinickendorf, Treptow-Köpenick, Charlottenburg-Wilmersdorf und Marzahn-Hellersdorf hatten am Freitag anscheinend früher Feierabend – oder waren schon längst „verstärkt auswärts essen“. Apropos Umverteilung: In London sollen große Teile der Innenstadt autofrei werden. Fußgänger und Radfahrer sollen mehr Platz bekommen. Ob Tische auf die Straße gestellt werden sollen, ist nicht bekannt. | |||
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Schwierige Tage für die Gesundheitssenatorin. Alle zwölf Amtsärzte schrieben ihr am Mittwoch einen offenen Brief, in dem sie sich über Alleingänge und fehlende Kommunikation beklagten. Am Donnerstag musste Dilek Kalayci einräumen, dass das am Montag eröffnete Covid-19-Krankenhaus noch gar nicht richtig fertig ist. Und am Freitag erklärte auch die Kassenärztliche Vereinigung, sich über die Kommunikation der Gesundheitsverwaltung zu wundern. Vieles erfahre man nur aus der Presse. Weitere Baustelle: Seit Wochen wartet der Senat auf die Test-Strategie der Gesundheitssenatorin. Kalayci hatte gesagt: „Wir müssen testen, testen, testen.“ Dem Checkpoint liegt nun ein Konzept vor – und eine Stellungnahme der Amtsärzte dazu. Die wichtigsten Punkte: 1) Die Amtsärzte widersprechen dem Ansatz der Senatorin, möglichst viele Testungen durchzuführen. „Testen ersetzt keine Schutzmaßnahmen und verhindert keine Infektionsübertragung.“ Es könne falsche Sicherheit entstehen, weil Infektionen in der langen Inkubationsphase von 14 Tagen nicht entdeckt werden. 2) Die Gesundheitsämter sollen laut der Strategie enge Kontakte (Kategorie I) von Infizierten, weniger enge Kontakte (Kategorie II) und medizinisches Personal (Kategorie III) durchtesten. Die Amtsärzte merken an: „Bei einer Testung aller Kontaktpersonen der Kategorie II müssten die Gesundheitsämter sofort Überlastung anmelden.“ Medizinisches Personal werde „engmaschig überwacht“, eine einmalige Testung aller: „kontraproduktiv“. Vielmühr müsse man die Ressourcen für „umfangreiche gezielte Testungen“ einsetzen. 3) Alle Patienten, die in ein Krankenhaus kommen, sollen getestet werden. Die Amtsärzte plädieren für „Aufnahme- und Entlassungsscreenings mindestens bei vulnerablen Gruppen“. Sobald die regulären Aufnahmen in Krankenhäuser hochgefahren würden, müsse die Regelung „Dynamiken zulassen“. 4) Alle 12.000 Erzieher in der Notbetreuung der Kitas sollen durchgetestet werden. Amtsärzte: „Dies führt zu keinen validen Ergebnissen. Aufwand und Nutzen stehen in keinem Verhältnis. Kinder und Erzieher sind niedrigschwellig zu testen, bei Symptomen und im Rahmen von Ausbrüchen.“ 5) Generell warnen die Amtsärzte vor dem Prinzip „Giesskanne“. Dem Papier aus der Gesundheitsverwaltung „fehlen wichtige Details – wann soll wer und wie getestet werden und mit welcher Konsequenz“, schließen die Mediziner. Eine Friedenpfeife zwischen Amtsärzten und Senatorin riecht anders. Checkpoint-Prognose: Bis das Konzept am Dienstag (eventuell) vom Senat beschlossen wird, wird noch kräftig dran gehobelt. | |||
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Es ist ja auch die Zeit der Bauchredner: Mit viel Meinung und wenig Sachverstand reden sich zurzeit Politiker und auch Professoren um ihre Reputation. Tübigens Ober-Provokateur Boris Palmer (Grüne) erzählte jüngst in einer Talkshow etwas von „einer Million Kinder“, die nun angeblich nach Einschätzung der UNO durch einen Armutsschock sterben. Nur hatte niemand von der UNO so etwas je gesagt (wie Sie hier nachlesen können). Der Bauch regiert, die Birne hat Pause. Es geht nicht in die Köpfe einer gewissen Zahl von Menschen, dass die Situation in Deutschland bislang wohl deshalb verhältnismäßig glimpflich ausgegangen ist, weil präventive Maßnahmen gewirkt haben. Das Präventionsparadoxon. Stattdessen raunt eine wachsende Clique von Meinungsdiktatur, gleichgeschalteter Presse oder dem Ende der Demokratie – hält aber bei tatsächlich anti-demokratischen Tendenzen den Mund (Grüße nach Ungarn!). Sie werden am Wochenende wieder auf die Straße gehen. Es werden wohl wieder mehr sein, als noch in der Vorwoche: 23 Demonstrationen sind heute rund um den Rosa-Luxemburg-Platz angemeldet, am Alexanderplatz und bis zur Oderberger Straße, einige Protestler wollen auch vor dem Robert-Koch-Institut in Wedding „gegen irreführende Zahlen“ demonstrieren. Die Polizei will die Lager (auch eine „Revolution der Reptilienmenschen statt Querfront“ ist angemeldet) mit Gittern und einem massiven Aufgebot auseinanderhalten. Die Sicherheitsbehörden wollen Szenen wie in der vergangenen Woche verhindern, als rechte Hooligans auf dem Alexanderplatz kurzzeitig das Kommando übernahmen. Innensenator Andreas Geisel (SPD) sagte am Freitag in einer kurzen Ansprache: „Die Gefahr ist noch nicht gebannt, wir sollten den Zahlen und Fakten vertrauen. Nicht dem Bauchgefühl. Und schon gar nicht den wirren Reden von Verschwörungstheoretikern, die Ihnen einreden wollen, der Staat sei böse.“ Er warnte davor, heute gemeinsam mit Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Hooligans zu demonstrieren. „Die möchten nicht Kritik äußern, die greifen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung an.“ | |||
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Wagen wir einen Blick in die Zukunft: 2021 sollte es mehr Parlamentssitzungen als bisher geben: 18. Das hatten alle Fraktionen im Berliner Abgeordnetenhaus (mit Ausnahme der AfD) im vergangenen Jahr zusammen mit einer Erhöhung der Diäten beschlossen. Zwei Plenartage mehr als bislang sollten es sein, weil aus Zeitmangel Vorhaben regelmäßig unerledigt blieben. Nun kursiert ein Entwurf des Sitzungsplans aus dem Büro von Abgeordnetenhauspräsident Ralf Wieland, der dem Checkpoint vorliegt. In diesem sind für das kommende Jahr allerdings nur 16 Sitzungen (plus einer Wahlsitzung) angesetzt. In der Koalition murren die ersten über das fatale Signal, das man so nach außen sende, und wollen auf die Mindestzahl von 18 Sitzungen drängen. Auf Checkpoint-Anfrage betont Abgeordnetenhaus-Sprecher Ansgar Hinz: „Der Plan, der Ihnen vorliegt, ist einer von mehreren Entwürfen. Sie wurden bislang nicht vom Ältestenrat beraten.“ Er bleibt aber dabei: Aufgrund „gewisser Ferienvorgaben“ und der Abgeordnetenhauswahl könne es 2021 zu „verringerten Sitzungen“ kommen. Projekt 18? Einfach verflucht. | |||
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Außerdem im Checkpoint für Abonnenten: + Niedere Instinkte im Hohen Haus: Wofür und von wem FDP-Fraktionschef Czaja den Mittelfinger gezeigt bekam + Löchriger Landeshaushalt: Berlin fehlen fast 8,4 Milliarden Euro – trotzdem will Rot-Rot-Grün weiter Geld ausgeben + Die Neue Weltordnung: Gilt rückwirkend und überall – nur nicht auf dem Schreibtisch unseres Autoren + Wohin mit der „Landshut“? Das Flugzeugwrack soll in Gatow ausgestellt werden, Ex-Außenminister Gabriel möchte es lieber woanders sehen + Angriffe auf LGBT-Community: 2019 gab es in Berlin 32 Prozent mehr Fälle von Gewalt gegen Schwule, Lesben und Transsexuelle als im Vorjahr + #100Dinge: Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert hat + Ende der Durchsage: Welche innere Wahrheit ein Schaffner der Deutschen Bahn den Verschwörungstheortikern unter seinen Fahrgästen verriet Testen Sie jetzt das Checkpoint-Abo und lesen Sie den ungekürzten Newsletter drei Monate für nur drei Euro. Zur Anmeldung – geht’s hier entlang. | |||
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