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Liebe/r Leser/in,

nehmen wir für einen Augenblick an, es stimme nicht. Es stimme nicht, dass Alexej Nawalny furchtlos gewesen sei. Und dass es diese Furchtlosigkeit gewesen sei, die Putin als unerträgliche Herausforderung empfunden habe. Seine Furchtlosigkeit, so erklärte es der frühere russische Regierungsberater Kirill Rogov gegenüber Reportern der „New York Times“, habe Nawalny dazu gebracht, zurück nach Russland zu gehen – und damit in die Haft und in den Tod. Nehmen wir an, das stimme nicht. Nehmen wir an, Nawalny habe sich gefürchtet. Vor dem Unrecht, dem er sich auslieferte. Vor der Zelle, in der man ihn einschloss. Vor dem Leid, das auf ihn wartete. Und dass er dennoch seinen Weg ging.

Von Nawalny kenne ich nur Berichte und Bilder. Jene, die ihn kannten, erzählen, er sei entschlossen gewesen. Ein Mann, der handeln wollte, weil er handeln musste. Er sei nach Russland zurückgekommen, so schrieb Nawalny selbst auf Facebook am 17. Januar, weil er weder sein Land noch seine Überzeugungen habe aufgeben wollen. Weder das eine noch das andere könne er hintergehen. „Wenn deine Überzeugungen einen Wert haben, dann musst du bereit sein, dafür einzustehen. Und wenn nötig, musst du ein Opfer bringen.“ Nawalny erkannte demnach, dass es eine Hürde, einen Widerstand zu überwinden gelte, wenn man seine Ideale nicht verraten wolle.

Furcht ist eine Hürde. Sie hält viele, sehr viele Menschen davon ab, ihr Tun und Lassen ausschließlich nach ihren Überzeugungen auszurichten. Furcht vor Anstrengungen, vor dem Versagen und vor schweren Nachteilen. Dort, wo das Unrecht regiert, herrscht die Furcht vor dem Verlust der Freiheit, drakonischen Strafen, vor dem Tod. Doch immer wieder erkennen wir Menschen, die trotz ihrer Furcht für ihre Überzeugungen leben. Bisweilen wanken sie, geraten ins Stolpern – aber dann gehen sie weiter ihren Weg. Unbeirrbar.

Andere erklären sie zu ihren Vorbildern. Folgen ihnen nach. Sie wissen um ihre Furcht, aber sie spüren auch den Wert ihrer Überzeugungen, die es zu verteidigen gilt. Nehmen wir an, dass Putin darum weiß. Und dass er deshalb jenen Mann, von dem die größte Gefahr für ihn ausging, in ein Straflager in den Ural nördlich des Polarkreises wegschloss und dort zu Tode kommen ließ.

Vergeblich. Die Nachricht von Nawalnys Tod hat viele Menschen in Russland erschüttert. Sie trauerten öffentlich, legten Blumen ab an Gedenkstätten für Opfer politischer Gewalt. Viele Hundert wurden festgenommen und im Schnellverfahren zu Arrest- oder Geldstrafen verurteilt. Diese Menschen gingen auf die Straßen, um ihren Widerstand zu bezeugen. Um zu bezeugen, dass Putin ihnen zwar Unrecht antun kann, dass er sie aber nicht beherrscht.

Nehmen wir an, diese Menschen hatten Furcht. Aber sie gingen dennoch ihren Weg.

Herzlich grüßt

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Markus Krischer,
stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin

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