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Liebe/r Leser/in,

beim Blick auf Politik in diesen Tagen kann man zwei sehr gegensätzliche Beobachtungen machen. Zum einen scheint sie zu rasen: Man wähnt den Kanzler noch in Katar, da ist Olaf Scholz schon mit Corona in der Dienstwohnung im Kanzleramt isoliert. An der Konferenz mit den Ministerpräsidenten zur Energiekrise am Mittwoch werde er per Video teilnehmen, heißt es am Montag, bevor das Treffen am Dienstag dann abgesagt wird – wegen Corona des Kanzlers. Ein anderes Beispiel: Der Wirtschaftsminister beschimpft am Mittwoch vergangener Woche im Bundestag in einem wilden Auftritt die Opposition, weil sie das Aus für die vermurkste Gasumlage fordert. Am selben Tag verschickt Robert Habecks Haus einen Vermerk mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Gasumlage.

Oder auch: Habeck verkündet am Dienstag den voraussichtlichen Weiterbetrieb von zwei Atomkraftwerken über den 31. Dezember hinaus, den er in der Woche zuvor noch strikt abgelehnt hatte. Und so schnell wie CDU-Chef Friedrich Merz hat sich schon lange kein Politiker mehr selbst widersprochen; für den von ihm am Montagabend behaupteten Sozialtourismus ukrainischer Flüchtlinge waren am Dienstagmorgen doch keine Belege zu finden.

Kommen wir zur zweiten Beobachtung: Der politische Betrieb rast, aber es geschieht in Wahrheit nichts oder wenig. Mir fällt dazu ein Begriff des bekannten französischen Philosophen Paul Virilio ein: „Rasender Stillstand“ als Endstadium stetiger Beschleunigung. Dem Publikum wird zunehmend schwindelig. Während der Kanzler stoisch daran festhält, dass seine Regierung das Land gut durch Herbst und Winter bringen werde, raunt sein Wirtschaftsminister zur Lage der deutschen Volkswirtschaft: „Teils ist es erst ein Schwelbrand, teils brennt schon die Hütte.“ In jedem Fall aber sei „die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft in Gefahr“, Dauerschäden drohten.

Jobs, Wachstum und Wohlstand stehen auf dem Spiel, doch die Koalition vertagt täglich die notwendigen Entscheidungen, wie die über eine Alternative für die inzwischen ja von allen für unbrauchbar gehaltene Gasumlage, die aber an diesem Wochenende in Kraft tritt, wenn nicht noch ein Ampelwunder geschieht. Und Habeck philosophiert weiter darüber, dass Deutschland kein Strommengenproblem habe, sondern lediglich „ein Netzstabilitätsproblem“ – ausgelöst freilich durch den zu erwartenden Ausfall von Stromlieferungen aus französischen AKWs. Wirklich kein Mengenproblem?

Möglicherweise haben doch die recht, die da sagen: Wer den Strompreis senken will, muss das Stromangebot erhöhen. Jedenfalls haben sie die Gesetze der Marktwirtschaft auf ihrer Seite. Dasselbe gilt auch für den Gaspreis sowie für Benzin. Wenn es gelänge, die dramatisch hohen Energiepreise zu deckeln und dann zu senken, könnte sich die Regierung ihre komplizierten und hochbürokratischen Entlastungsprogramme schenken, die schon deshalb verpuffen, weil sie kaum einer noch überschaut. Und deswegen bewirken sie auch nicht bei Mittelstand und Bürgern wieder mehr Zuversicht – eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Besserung der ökonomischen Situation. Kein Wunder, dass die Konsumstimmung der Deutschen auf den niedrigsten jemals gemessenen Stand gesunken ist.

Aufhorchen ließ in dieser Woche ein Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder. So wie die damalige Kanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück in der Finanzkrise die Sicherheit der Sparkonten verbürgt hatten, müssten Scholz, Habeck und Finanzminister Christian Lindner eine Energiepreis-Garantie geben. Nur wenn Bürger und Wirtschaft die Gewissheit hätten, dass Gas-, Strom- und Spritpreise vom Staat abgefedert würden, könnte eine Katastrophe noch abgewendet werden. Daran ist richtig, dass die Wirtschaft erst wieder kalkulieren kann, wenn sie in etwa weiß, wie hoch die Energierechnung ausfällt. Und auch die Bürger brauchen für Anschaffungen, Urlaub oder Weihnachtsgeschenke Gewissheit darüber, was sie sich noch leisten können.

Zu Söders Überlebenskonzept für das Land gehört die staatliche Deckelung der Strom-, Gas- und Benzinpreise, aber auch eine massive Ausweitung des Energieangebots durch Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke sowie die Wiederinbetriebnahme drei weiterer, bereits abgeschalteter Kernkraftwerke, das Wiederanfahren aller vom Netz gegangenen Kohlekraftwerke (statt wie bislang nur zwei von insgesamt 18) und die Beschaffung zusätzlicher Gasmengen. Über Stadtwerke und soziale Einrichtungen will er staatliche Schutzschirme aufspannen.

Im Prinzip folgt das Konzept aus München der Logik der Rettungspläne und Auffangnetze der Corona-Krise. Ich bin weder Kanzler, Wirtschaftsminister noch Wirtschaftsweiser und kann deshalb nicht beurteilen, ob jeder einzelne Punkt funktionieren würde. Und ja: Der Söder-Plan würde den Steuerzahler enorm viel Geld kosten. Denn Preisdeckel bedeuten, dass der Staat den Verbrauchern eine Preisobergrenze zusichert und für die Differenz zum Marktpreis aufkommt oder einen prozentualen Anteil an den Energierechnungen übernimmt. Aber es wäre ein Big Bang gegen die vielleicht größte Krise der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung. Und wir brauchen nach meiner Überzeugung jetzt einen Big Bang; mit Knallfröschen à la Gasumlage kommen wir nicht weiter.

Herzlich Ihr

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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