Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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10. Dezember 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
Sirenen sind Apparaturen zur akustischen Alarmierung: In der Regel handelt es sich dabei um einen an- und abschwellenden Heulton von dreimal zwölf Sekunden. Sie werden zur Warnung im Katastrophenfall verwendet. Die Katastrophe ist eingetreten. Die jüngste Pisa-Studie zeigt ihr verheerendes Ausmaß. Sie berichtet vom Absturz einer Bildungsnation. Aber: Wo bleibt bitte der Alarm? 

Es ist zum Dauerheulen

Die Sirenen sind oft auf Schulhäuser montiert. Dort sitzen sie, wie sich jetzt zeigt, am richtigen Ort. Und es zeigt sich auch, dass ein paar kurze Heultöne nicht genügen – es ist zum Dauerheulen: Im Lesen und im Rechnen waren die Ergebnisse der Pisa-Studie die schlechtesten, die dort je für Deutschland ermittelt worden sind. In keiner vorherigen Studie schnitten die 15-Jährigen hierzulande so schlecht ab wie dieses Mal. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nicht einmal die Mindestanforderungen erfüllen, ist in der Mathematik von 22 auf 30 Prozent gestiegen. „Diese Schüler können nicht einmal ausrechnen, ob sich ein Sonderangebot lohnt“, sagen die Bildungsforscher. Im Lesen fehlen die Basiskompetenzen bei jedem vierten, im Rechnen bei jedem dritten Neuntklässler. Von einem „Abfall in nie dagewesenem Ausmaß“ ist die Rede.

Noch einmal die Frage: Wo bleibt der Alarm? Wo ist der, der hier eine Zeitenwende ausruft? Wo ist die, die ein gigantisches Aufrüstungsprogramm für die Schulen propagiert? Wo ist der, der ein 100-Milliarden-Sonderprogramm für Kitas und Schulen verhandelt und auflegt? Verrottete Schulgebäude und frustrierte Lehrerinnen und Lehrer sind ein Armutszeugnis für Deutschland.

Die deutsche Bildungslandschaft ist keine Landschaft, sondern ein Verhau

Wer wissen will, was Zukunftsinvestitionen sind – voilà: Es geht darum, kleine Klassen zu schaffen, dabei Chancengleichheit herzustellen und den Föderalismus nicht schon bei der Klassenbildung ad absurdum zu treiben. In Hamburg liegt die Höchstgrenze für die Klassengröße an der Hauptschule bei 23, in Hessen bei 25, in Bayern und etlichen anderen Bundesländern bei 30 Schülerinnen und Schüler! In Worten: dreißig! Diese Unterschiede sind symptomatisch. Die deutsche Bildungslandschaft ist keine Landschaft, sondern ein Verhau. Der Föderalismus in der Schulpolitik ist praktizierter Sadismus, der die Lehrer und die Lernensollenden gleichermaßen quält. Es geht darum, die Leistungsstarken, die immer weniger werden, zu fördern. Und es geht darum, die Leistungsschwachen, die immer mehr werden, zu fördern. Es geht darum, zwei Leitlinien zusammenzufügen. Leitlinie eins: Wer leistet, fühlt sich gut. Leitlinie zwei: Wer sich gut fühlt, bringt bessere Leistungen. Es geht darum, in allen Kitas verbindliche Sprachtests einzuführen, denen dann eine verbindliche Förderung folgt. Die gute Beherrschung der deutschen Sprache ist aller Dinge Anfang.

Politiker verweisen zur Entschuldigung der katastrophalen Mängel auf Corona und auf den hohen Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Deren Anteil ist in der Tat in den vergangenen Jahren auf 38 Prozent gestiegen. Aber: Es handelt sich um Ausreden. Deutschland hat die Schulen in der Pandemiezeit länger geschlossen als jedes andere Land – zugleich fehlte aber die Technik für den Distanzunterricht. Und es fehlte und fehlt die gezielte, umfassende und nachhaltige Förderung der Migrantenkinder schon in der Kita. 

Ohne Konzentration gibt es kein Lernen 

Zur Aufrüstung der Schulen gehört auch die profunde digitale Aufrüstung der Schulen – aber auch die dringende Warnung davor, darin ein Allheilmittel zu sehen. Digitale Hilfsmittel können den Schulbetrieb bereichern, aber auch stören. Digitale Endgeräte haben, auch darauf hat die Pisa-Studie hingewiesen, ein starkes Potenzial, Kinder und Jugendliche abzulenken und die Konzentration zu zerstören. Ohne Konzentration gibt es kein Lernen. Der Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer hat soeben in einem Beitrag für den Mannheimer Morgen darauf hingewiesen, was schon früheren Pisa-Studien zu entnehmen gewesen sei: In stark durchdigitalisierten Schulen werden schlechtere Lernergebnisse erzielt – weil die Digitalität dann so oft das analoge Unterrichten ersetzt, statt es zu begleiten und dort zu integrieren. Es geht um den Nährwert der Schulen. Er ist viel zu niedrig. Ihn wieder zu heben – das ist jede Anstrengung wert. Davon schreibe ich in meinem heutigen SZ-Plus-Text, der davon handelt, wie die Voraussetzungen dafür sein müssen, dass Lehrerinnen und Lehrer gut sein können.
SZPlus Prantls Blick
Gute Lehrer, schlechte Lehrer
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Ich wünsche Ihnen eine möglichst ruhige zweite Adventswoche. Trinken Sie einen Glühwein, am besten einen selbst gemachten, der nicht so pappig süß ist. Sie können dabei die SPD-Politikerin Renate Schmidt hochleben lassen, die am kommenden Dienstag achtzig Jahre alt wird. Die ehemalige Bundesfamilienministerin und bayerische SPD-Chefin verkörpert mit ihrer herzlich zupackenden Art eine SPD, wie man sie auf dem soeben beendeten Parteitag in Berlin nicht mehr gefunden hat.

Ihr
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Ulrich Chaussy (Bild:
C₉H₈O₄
Es gibt Bücher, die sind zum Lesen. Und es gibt Bücher, die sind zum Verschlingen. Ulrich Chaussys Buch (Foto oben: Stephan Rumpf) über Arthur Eichengrün ist so ein Buch. Es ist ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen mag, es ist die unglaublich spannende, die faszinierende und bedrückende Biografie eines Vergessenen. Der Mann, den Chaussy aus der Vergessenheit herausreißt und herausschreibt, war ein großartiger deutsch-jüdischer Chemiker, dem die Welt, unter anderem, das Aspirin verdankt. Chaussy charakterisiert ihn im Untertitel seines Buches trefflich so: „Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst.“ Chaussy hat viele Kunststoffe erfunden, unter anderem die Kunststoffbespannung Cellon für den Zeppelin. Und eben das ASS, die Acetylsalicylsäure, chemische Formel C₉H₈O₄, genannt Aspirin. Der Dank dafür war die Deportation durch die Nazis ins Konzentrationslager Theresienstadt. Eichengrün hat das zigtausendfache Morden dort überlebt. Er gehört zu denen, die von der Roten Armee befreit wurden. Der Journalist Chaussy, der die Spuren des Erfinderlebens und des bitteren Schicksals von Eichengrün akribisch verfolgt hat, ist als hartnäckiger und erfolgreicher Wahrheitssucher (beispielweise zum Oktoberfestattentat von 1980) bekannt. Chaussy schildert, unter anderem, Eichengrüns Nachbarschaft zu Adolf Hitler auf dem Obersalzberg. Der Chemiker hatte dort ein Ferienhaus neben dem späteren Anwesen des Diktators.

Ulrich Chaussy: Arthur Eichengrün. Der Mann, der alles erfinden konnte, nur nicht sich selbst. Das Buch ist 2023 im Verlag Herder erschienen, es hat 368 Seiten und kostet 26 Euro.
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SZPlus
Noch ein Licht für den Frieden?
Was ist der „Geist von Helsinki“? Er ist ein historischer Geist, er ist ein Geist, den es in Europa nicht mehr gibt. Er ist ein Geist, den es aber so sehr bräuchte. Dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg versprachen sich 35 Staaten des Ostblocks und des Westblocks „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Das geschah am 1. August 1975 in Helsinki, nach zweijährigen Verhandlungen. Es ging um Entspannung, es ging um Abrüstung. Die Staaten verpflichteten sich unter anderem zur Entsendung von Beobachtern zu den Militärmanövern der jeweils anderen Länder. So entstand ein Minimalvertrauen. Es ist mit dem Ukraine-Krieg gänzlich verschwunden. Es wurde zermalmt von Putins Panzern.  Man liest das Helsinki-Erinnerungsstück von Nicolas Freund auf der Historienseite in der SZ-Wochenend-Ausgabe am 2. Advent mit Trauer – und fragt sich, ob es noch irgendwo ein Licht gibt für den Frieden.
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