wie es scheint, treten die demokratischen Staaten des Westens in ein Zwischenreich ein. Die schmeichelhafte Erzählung eines liberalen, offenen und großzügigen Europas – die ohnehin stets Züge einer obsessiven Selbstbeschwörung trug – geht nunmehr zu Ende. Immer weniger Europäer sind bereit, ihr zu folgen. Das schreibe nicht ich, sondern Cicero-Autor Dominik Pietzcker unter dem Eindruck der heutigen Stichwahlen zum französischen Parlament, aber auch vor dem Hintergrund jüngerer Wahlen in den europäischen Mitgliedstaaten: in Italien, in Kroatien, in den Niederlanden. Pietzckers Text ist mit der Zeile „Sind wir bereit für ein rechtes Europa?“ überschrieben. Die Gegenwart zeichnet, schreibt er, ein neues und dunkleres Bild der europäischen Staatengemeinschaft, dessen Grundzüge nunmehr aus dem Dunst der Tagespolitik hervortreten: illiberal, nationalistisch und protektionistisch. Das kann man so sehen – oder anders. Aus meiner Sicht ist der sogenannte „Rechtsruck“ nämlich primär eine „Linksflucht“; ein Ausdruck der Erkenntnis, dass Liberalismus und Protektionismus keine Widersprüche sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Es geht, meine ich, jedenfalls nicht um die Frage, ob der Westen offen und tolerant bleiben will, sondern darum, dass Offenheit und Toleranz schon länger für alle – inklusive jener Menschen mit Migrationshintergrund, die im Westen keine Zustände haben wollen wie in jenen Ländern, aus denen sie einst geflohen sind – sichtbar an ihren Grenzen geraten sind, und darüber hinaus. Ob man deshalb gleich AfD wählen muss, das steht freilich auf einem anderen Blatt. Worin wir, also Pietzcker und ich, uns aber einig sein dürften, ist, dass die jüngsten Jagdszenen rund um den AfD-Parteitag in Essen am vergangenen Wochenende indiskutabel sind. Antidemokratisch ist nämlich keine Spezialität der Rechten. Mein Kommentar. Vor dem Hintergrund aller jüngeren Entwicklungen stellt sich auch in Deutschland längst die Frage aller politischen Fragen: Ist die derzeitige Bundesregierung noch Herr der Lage? Oder muss es heute Herr*in heißen? Wie dem auch sei. Ich denke: nein. Und wahrscheinlich war sie es von Anfang an nicht. Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn. Außerdem hat Schlie jüngst wiederentdeckte Memoiren von Ludwig Erhard als Buch herausgegeben. Was sich unter anderem darin findet: eine Bedienungsanleitung für gescheiterte Koalitionsregierungen. Und wo wir schon bei Wahlen respektive Neuwahlen sind: Der Labour-Triumph in Großbritannien und der absehbare Erfolg des rechten Rassemblement National in Frankreich stellt den europäischen Zusammenhalt vor eine neue Zerreißprobe. Insbesondere beim Thema Flüchtlinge droht Ungemach, analysiert Antonia Colibasanu. Und Christian Schnee schreibt über Aufbruch und Erlösung nach dem Labour-Sieg in Großbritannien. Teil der aktuellen Diskussionen über politische Neuausrichtungen in den Ländern des Westens ist auch die Frage, wie selbiger eigentlich mit der Lage in der Ukraine umgehen sollte. So zeigt etwa eine gesamteuropäische Umfrage, dass immer weniger Europäer an einen Sieg in der Ukraine glauben. Über den Ukraine-Krieg hat diese Woche auch Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier mit seinen Gästen im Cicero Hard Talk diskutiert. Konkret mit Russland-Expertin Miriam Kosmehl, Roderich Kiesewetter (CDU) und Ralf Stegner (SPD). Das Gespräch können Sie hier als Podcast hören und hier als Video ansehen. Zwei Interviews, die diese Woche auf Cicero Online erschienen sind, möchte ich Ihnen ebenfalls noch betont ans Herz legen. Mit seinen Thesen zum Labor-Ursprung des Coronavirus ist Roland Wiesendanger zum Enfant terrible der Wissenschaft geworden. Vieles spricht heute indes dafür, dass er recht hatte. Mein Kollege Ralf Hanselle hat mit ihm gesprochen. Und Clemens Traub hat sich diese Woche mit Güner Balci, der Integrationsbeauftragten im Berliner Problembezirk Neukölln, unterhalten. Im Interview spricht sie über den Flächenbrand des Islamismus, das verbreitete Phänomen der Holocaustleugnung an den Schulen und das Versagen der Politik. Weitere lesenswerte Beiträge habe ich Ihnen unten angehängt. Bleiben Sie optimistisch. Ihr Ben Krischke, Leitung Cicero Digital |