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Liebe/r Leser/in,

erinnern Sie sich an die erste Zeit nach Putins Überfall, als wir noch jeder Rede, jedem Gespräch das Korsett der gezählten Tage anlegten?

An Tag 3 des Angriffs …
Mit Tag 22 des Krieges …

Irgendwann haben wir damit aufgehört. Weil wir den Überblick verloren? Weil auch das Ungeheuerliche normal wird? Fakt ist: An Tag 896 hat die Ukraine mit dem Willen der Wütenden einige Quadratkilometer russischen Staatsgebiets bei Kursk besetzt.

Es soll wie eine Wende wirken, ein Fanal mit der Botschaft: Jetzt bringen wir den Krieg, den ihr uns aufgezwungen habt, zurück zu euch!

Militärisch ist dieser Gegenangriff laut Experten mindestens riskant und womöglich erfolglos, wichtig aber ist er dennoch – vor allem für die Moral. Denn in Wahrheit kämpfen Selenskyjs Soldaten längst nicht mehr nur für Bodengewinn oder Verteidigung, sondern immer verzweifelter auch gegen ihre tiefe Erschöpfung nach fast 1000 Tagen ununterbrochenem Einsatz.

In Kälte und Hitze. Ohne Munition, Fronturlaub oder Schlaf. 120 000 Ukrainer verletzt. 70 000 tot. Mehr als vier Millionen in EU-Staaten geflohen, davon 700 000 Männer in wehrfähigem Alter.

Es war an Tag eins, als ich vom sofortigen Ausreiseverbot ukrainischer Männer hörte. Es war etwa einen Monat später, als ich von einem Ukrainer las, dem mit seiner Familie die Flucht nach Deutschland geglückt war und der sich dennoch auf den Weg zurück an die Front machte.

Viele Väter wurden damals zu Helden. Der Politologe Herfried Münkler, Urheber des Begriffs der „postheroischen Gesellschaft“, hat einmal geschrieben: „Nicht das Blut, das an seinen Waffen klebt, macht den Krieger zum Helden, sondern seine Bereitschaft zum Selbstopfer, durch das andere gerettet werden.“

Heute besteht das größte Problem der ukrainischen Streitkräfte in der Rekrutierung kampfbereiter Soldaten. Mindestens 500 000 fehlen, um die 1,3 Millionen Mann starken russischen Truppen weiter aufzuhalten.

Durch die Straßen von Kiew streifen seit Monaten Rekrutierungsteams, die wehrfähige Männer in Transporter setzen und sie zur Registrierung bringen, um ihnen „Happy Tickets“ auszustellen. So nennt man dort den Einberufungsbefehl.

Viele haben Angst, ihre Wohnungen zu verlassen. Andere retten sich über die Grenzen in sichere Länder. Sind sie feige? Oder hängen sie einfach zu sehr am Leben?

Auch hierzulande werden Stimmen lauter, die finden, es passe nicht, Milliarden Euro für die Verteidigung der Ukraine auszugeben und zugleich jene zu alimentieren, die sich diesem Kampf entziehen.

Ich verstehe diese Sicht. Stell dir vor, es ist Krieg und die Guten gehen nicht hin? Und ja, jeder Krieg zwingt zur brutalen Entscheidung. Doch dann …

… sitze ich unserem Sohn gegenüber und weiß: Auch ich bin ein Kind der postheroischen Gesellschaft. Auch ich möchte keinen Helden, sondern unser lebendiges Kind. Sollten die europäischen Länder also angesichts der dramatischen Lage wehrfähige Ukrainer zurückschicken? Die Lektüre unserer Reportage ab Seite 44 schenkt ein tieferes Verständnis für dieses schmerzhafte Dilemma. 

Herzlich Ihre

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Franziska Reich,
Chefredakteurin FOCUS-Magazin

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