Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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5. Juli 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
John Lennon war ein Philosoph, der auch etwas von Musik verstand. Theodor Adorno war auch ein Philosoph, der über manche Arten von Musik mehr verstand als John Lennon. Adorno schrieb zum Beispiel über Mahlers Vierte: „In der Vierten Symphonie kontrapunktiert er (Mahler) erstmals im Ernst, ohne daß freilich die Polyphonie schon über den Vorstellungsschatz der frühen Stücke herrschte.“ Das „ß“ gehört dahin, weil Adorno, vielleicht zu seinem Glück, 27 Jahre vor der Rechtschreibreform von 1996, so lange ist die schon wieder her, starb. (Bevor wieder jemand eine Mail schreibt: Das Adorno-Zitat stammt aus seinem Mahler-Buch, als Band 61 der Bibliothek Suhrkamp 1960 erschienen.) Andererseits, und so viel Abschweifung muss sein, soll Paul McCartney, kein Philosoph, aber ein recht passabler Musiker, gesagt haben: „Mahler was a major influence on the music of the Beatles“, er und John Lennon hätten die „Kindertotenlieder“ und das „Wunderhorn“ zum Klavier gesungen. Das klingt irgendwie unwahrscheinlich, und der Ursprung dieses Zitats von McCartney ist auch nicht mehr recht auszumachen, aber immerhin ist es mal vom BBC Music Magazine gedruckt worden.

Lennon also war ein Philosoph, und außerdem muss man von Mahler gar nix verstehen und kann trotzdem bayerischer Ministerpräsident werden, um dann einen gescheiten Konzertsaal nicht zu bauen. Der Philosoph Lennon sagte den schönen Satz: „Am Ende wird alles okay sein. Wenn es nicht okay ist, ist es nicht das Ende.“

Diese Weisheit möchte man Joe Biden sehr ans Herz legen. Das Rededuell mit dem durchgeknallten Donald vergangene Woche war eindeutig nicht okay für Biden. Mich hat es ein wenig daran erinnert, wie ich als Fünfjähriger mal eine Eidechse fangen wollte. (Als ich fünf war, gab es in Bayern noch Eidechsen, nicht mal wenige.) Die Eidechse war viel schneller als ich, fand aber in ihrer Panik keinen rechten Fluchtweg. In der Hektik, in der ich dem herumflitzenden Tier nachwuselte, fiel ich hin und schlug mir die Stirn auf. Unter großem Geschrei lief ich zur Oma, die mich tröstete und zu mir sagte: „So a Viech derwischt du doch net. Des woaßt doch.“ Meine Oma war auch eine Philosophin.

Biden ging es im Rededuell mit Trump so wie mir mit der Eidechse. So a Viech derwischt der net. Und eigentlich müsste er es auch wissen. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass er nicht merkt, wie alt er ist, und was sein Alter für Auswirkungen auf seine Sprache, sein Auftreten, seine performance hat. Er will es wohl nicht wahrhaben. Einerseits kann man das verstehen, denn wenn man ebenso allmählich wie unaufhaltsam älter wird, begegnen einem Dinge an einem selbst, die man erst dann wahrhaben will, wenn man ganz unhektisch mal im Sinne des Wortes auf die Schnauze gefallen ist. Andererseits ist es gefährlich, wenn man die Erkenntnis des Älterwerdens nicht auch in Taten, besser noch in Seinlassen, umsetzt.

Klar, nicht alle werden gleich alt, selbst wenn sie gleichaltrig sind. Die Tage war ich bei einem Konzert von Rod Stewart, der mit 79 zwischen Trump (78) und Biden (81) liegt. Ja, Euer Ehren, als älterer Mensch geht man auch dahin, weil man vor mehr als 50 Jahren gerne eine Maggie May kennengelernt hätte, und wenig später zu Sailing die Vorteile des Engtanzens mit Anni entdeckte, was zu allerhand Weiterungen führte. Künstler der Altersklasse von Rod Stewart, Keith Richards oder Willie Nelson zeigen einem allerdings auch, dass es okay sein kann, wenn es noch nicht zu Ende ist (Daniel Barenboim, Zubin Mehta oder Abdullah Ibrahim zeigen das genauso). Und der eine oder andere hört auf, wenn es gerade besonders okay ist. Das ist weise, solange man noch herumspringen kann wie Rod Stewart, der seine Tour unter das Motto „One last time“ stellte. Und es ist schön, wenn man aufhört, solange noch ein paar Tausend Leute in der Olympiahalle fast jeden Song mitsingen.

Blöd ist es, wenn man den Moment – die Phrasenschwurbler würden sagen: das Zeitfenster – verpasst, zu dem man sich in Würde und noch voller Begeisterung verabschieden kann. Bei Joe Biden scheint es leider so zu sein, auch wenn man ihm aus naheliegenden Gründen einen Teil der Bühnenvitalität von Rod Stewart wünschen würde. Es ist bitter, wenn einer wie Biden so gealtert ist, dass einer wie Trump deutlich leistungsfähiger aussieht, auch wenn er ein notorischer Lügner, ein gefährlicher Narzisst und ein verurteilter Straftäter ist.

John Lennon hat auch gesagt: „Zähle dein Alter nach Freunden, nicht nach Jahren.“ Leider werden manchmal, auch bei Joe Biden, die Jahre sichtbarer, als es die Freunde bleiben. Solchen Erkenntnissen darf man sich nicht verschließen. Zwar ist es einfacher, mit geschlossenen Augen zu leben (ebenfalls Lennon, living is easier with eyes closed). Aber diese Form der Eigenwahrnehmung kollidiert schnell mit der Realität, zumal wenn man sich ihr in der Öffentlichkeit, vor Kameras, stellen muss.

Ehrlichkeit sich selbst gegenüber gehört zu den schwierigen Dingen des Lebens. Wenn man etwas nicht mehr kann oder will, sollte man es bleiben lassen. Auch dazu wusste John Lennon etwas zu sagen: „Being honest may not get you a lot of friends but it’ll always get you the right ones“. Ehrlich zu sein, bringt einem vielleicht nicht eine Menge Freunde. Aber es bringt immer die richtigen.
Kurt Kister
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