Liebe Frau Do, Journalisten läuten gerne mal historische Zeitenwenden ein und diagnostizieren bahnbrechende Entwicklungen, nur um dann ernüchtert festzustellen, dass das „historische Ereignis“ nur ein Ausreißer war. Doch dass der Höhenflug der Grünen ein vorübergehender Hype ist, bezweifle ich. Die Grünen haben sich als Partei der Nachhaltigkeit behauptet und damit die junge Generation fast vollständig hinter sich gebracht. Die SPD hingegen, die in manchen westdeutschen Großstädten abgeschlagen hinter den Grünen und der CDU im einstelligen Bereich gelandet ist, wirkt derzeit so cool wie kurzärmelige Karohemden und weiße Socken in Birkenstock-Sandalen. Die CDU ist bei jungen Leuten ebenfalls unten durch. Ihre oberlehrerhafte und arrogante Haltung gegenüber der „Friday-for Future“-Bewegung und ihre Rolle bei der Urheberrechtsreform haben eine Generation, die das Internet als selbstverständlichen Bewegungsraum und die Klimafrage als existenziell wahrnimmt, vergrätzt. Wenn die Grünen es nun noch schaffen, ihre ökologischen Ziele, die von der Gesellschaft ja breit getragen werden, mit sinnvollen marktwirtschaftlichen Methoden zu unterlegen statt mit Bevormundung und missionarischem Eifer, dann kann die Partei tatsächlich die SPD als Volkspartei der linken Mitte ablösen. Robert Habeck und Annalena Baerbock sind jedenfalls kein Bürgerschreck. Es ist Habecks Ehrgeiz, die Ökonomie mit der Ökologie zu versöhnen und die beiden Ministerien in seine Hand zu bringen, wenn er nicht doch Kanzler wird. Eva Quadbeck beschreibt eine „Volkspartei in Grün“. Thomas Reisener hat sich bei den Grünen im Land umgehört, die in vielen Kreisverbänden darüber nachdenken, eigene Spitzenkandidaten für die Bürgermeister-Wahlen im kommenden Jahr aufzustellen. In neun der größten NRW-Städte bekamen die Grünen am Wochenende mehr Stimmen als jede andere Partei: Düsseldorf, Wuppertal, Aachen, Bonn, Köln, Münster, Bielefeld, Bochum und Dortmund. In Düsseldorf muss Thomas Geisel, wenn schon nicht die CDU ein ernstzunehmender Gegner ist, dann doch Konkurrenz von den Grünen ertragen. „Ich kann den Düsseldorfer Grünen nur empfehlen, mit einer eigenständigen OB-Kandidatur für die nächste Kommunalwahl ins Rennen zu gehen“, sagte NRW-Landeschefin Mona Neubauer.
Und wie das immer so ist, wenn die großen Parteien wichtige Wahlen verlieren: Es wird gesundgebetet, schöngeredet und auf Zeit gespielt. Man will „die Wahlen aufarbeiten“, die „Ergebnisse schonungslos analysieren“, aber Konsequenzen ziehen? Nein, das geht dann doch zu weit. Zumindest vorerst. Andrea Nahles, die geduldete SPD-Chefin, will die Wahlen zum Fraktionsvorsitz vorziehen und fordert damit ihre innerparteilichen Gegner auf, gegen sie anzutreten. Annegret Kramp-Karrenbauer, die unglückselige CDU-Chefin, lehnt personelle Veränderungen gänzlich ab. Kristina Dunz berichtet. Doch was sind schon die tektonischen Verschiebungen in der Berliner Republik gegen das Beben in Wien. Gestern wurde Kanzler Sebastian Kurz von einer Koalition aus FPÖ und SPÖ abgewählt. Die Sozialdemokraten, die angeblich niemals mit den rechtspopulistischen Freiheitlichen zusammenarbeiten wollten, reichen der Partei gerne die Hand, wenn es um die eigenen Interessen geht. So viel Heuchelei ist schon bemerkenswert. Und kann für die SPÖ auch nach hinten losgehen. Wenn nämlich Kurz im September die Neuwahlen gewinnt und mit einer geschwächten FPÖ erneut in ein Rechtsbündnis geht. Schön wäre das nicht, aber die Sozialdemokraten lehnen ja weiterhin eine Koalition mit der ÖVP ab. Rudolf Gruber berichtet. Herzlichst Ihr Michael Bröcker Mail an die Chefredaktion senden P.S.: Wenn Ihnen dieser Newsletter gefällt, empfehlen Sie die "Stimme des Westens" weiter! |