Das TOUR Tech-Briefing zur 11. Etappe |
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Fotograf: Getty Velo |
Vom 1. bis zum 23. Juli messen sich die besten Radsportler der Welt bei der Tour de France. Über Sieg und Niederlage entscheiden dabei nicht nur die Beine, sondern auch das Material. Das TOUR Tech-Briefing zur 11. Etappe. |
Tour de France 2023 - 11. Etappe: Clermont-Ferrand - Moulins | 179,8 Kilometer |
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Das Höhenprofil der 11. Etappe der Tour de France 2023, Fotograf: A.S.O. |
Die 11. Etappe ist auf dem Papier eine Sprintetappe. Die topografischen Schwierigkeiten sind überschaubar, das Finale ist flach. Bis nächsten Donnerstag ist sie zudem die einzige Möglichkeit für Sprinter, positiv aufzufallen. Aber bei der Tour de France ist alles möglich. Eine gut besetzte Fluchtgruppe könnte auch durchkommen. Die Frage ist, wer die größere Motivation aufbringt. |
Die bislang schnellste Etappe war die achte, mit einem Schnitt von 47,8 km/h. Das ist verdammt flott. Kann eine Gruppe überhaupt bestehen, wenn das ganze Peloton mit Höllentempo jagt? Wenn alle jagen, dann nicht, dann spricht das Kräfteverhältnis ganz klar für das Peloton. Wer sich hier gut versteckt, spürt kaum Windwiderstand und spart daher enorm an Energie und könnte jederzeit frisch an die Spitze fahren. Aber es jagen nie alle. Meist teilen sich zwei bis drei Sprintermannschaften den Job, die dafür aber auch nur zwei Fahrer abstellen, weil sie die Sprint-Anfahrer fürs Finale schonen wollen. Effektiv jagen daher gar nicht viel mehr Fahrer, als auch vorneweg fahren. Die Frage ist also vor allem: wer ist motivierter und wer hat das bessere Timing? |
Tour de France 2023 - 11. Etappe: Welche Sprinter könnten gewinnen? |
Welche Mannschaften könnten motiviert sein, einen Massensprint zu erzwingen? Caleb Ewan, Dylan Groenewegen und Biniam Girmay haben noch keinen Sieg erzielt, entsprechend sind ihre Teams motiviert. Fabio Jakobsen könnte sich von seinen Verletzungen erholt haben, so dass Soudal - Quick Step sich für ihn einspannt. Wout van Aert möchte auch dringend gewinnen, aber ob Jumbo-Visma auf der 11. Etappe der Tour de France 2023 voll fährt, für ein flaches Finale, das van Aert nicht optimal liegt? Alpecin-Deceuninck hat Grün und will den Vorsprung ausbauen, aber hat auch drei Etappensiege auf dem Konto. Die werden garantiert nicht als erste fahren. Mark Cavendish ist raus, wodurch Astana geschwächt ist. Mads Pedersen hat seine Etappe gewonnen – und ein ganz flaches Finale liegt ihm auch nicht. |
Wir sehen, so schlecht sind die Chancen vielleicht gar nicht für eine Gruppe, weil die Motivationslage bei den besten Sprinterteams gar nicht so eindeutig ist und zur Mitte der Tour auch schon Müdigkeit im Feld eingekehrt ist. Aber das hier ist ja ein Tech-Briefing. Kommen wir also zur Technik. Die schnellsten Rennräder des Tages kennen die Leser dieses Newsletters schon auswendig, denn es sind immer dieselben. |
Zahl des Tages: eine Hundertstelsekunde |
Auf der 11. Etappe der Tour de France 2023 erwarten wir aber einen Tuning-Kniff: Jumbo-Visma wird aufgrund des Profils vermutlich wieder 1x12-Getriebe montieren, das macht das Cervelo S5 von Wout van Aert zum potentiell schnellsten Rad mit einem Vorsprung von einer Hundertstelsekunde in einem 150-Meter-Sprint. Von den 202 Watt, die wir im Windkanal ermittelt haben, gehen rund drei Watt runter für das Rennrad ohne Umwerfer mit geschlossenem Aero-Kettenblatt. Wir haben den Wert in der Liste weiter unten entsprechend angepasst. |
Aber das schnellste Rad bringt nichts, wenn die Situation eine andere ist. Angenommen, es entwickelt sich ein Szenario wie bei der achten Etappe und eine Gruppe geht früh, ist aber größer und besser besetzt. Was müssten die Fahrer in der Gruppe leisten, um das Feld dauerhaft auf Distanz zu halten? Und wie schnell kann das Feld Ausreißer einholen, wie groß muss das Zeitpolster sein? |
Tempo 50 ist für Ausreißer drin, Tempo 60 schafft nur das Peloton |
Mit guter Position und guter Ausrüstung kann ein Profi mit 380 Watt rund 49 km/h schnell fahren – im Flachen. Das entspricht etwa auch der Schwellenleistung eines normalen Profis. In einer Vierer-Fluchtgruppe ist ein 50er Tempo so vier Stunden lang problemlos aufrecht zu halten, also für rund 200 km, weil im Windschatten 100-130 Watt gespart werden können. Für eine Weile können Ausreißer das Tempo auch auf rund 52 km/h steigern. Darüber wird’s schwierig, das mit wenigen Mitstreitern länger durchzuhalten, weil der Luftwiderstand zu stark anzieht. |
Das Feld hingegen kann bis zu Tempo 60 fahren – dafür sind unter sonst gleichen Voraussetzungen 670 Watt Tretpower an der Spitze nötig. Das ist möglich, wenn die Fahrer an der Spitze rotieren und nur relativ kurz im Wind sind. Das gelingt vor allem dann, wenn viele mitmachen, also eher zum Ende einer Etappe, wenn die Positionskämpfe beginnen. Die Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Ausreißern und einem entfesselten Feld liegt dann bei rund 8 km/h. Das heißt umgerechnet, dass das Feld mit maximaler kollektiver Anstrengung rund anderthalb Minuten pro 10 Kilometer aufholen kann – wenn die Ausreißer maximale Gegenwehr leisten. |
Das (fast) komplette Feld im Überblick (150-Meter-Sprint) |
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*, Fotograf: Robert Kühnen |
*) Die Berechnungen beruhen auf den von TOUR in Labor und Windkanal getesteten Rädern. Die Maschinen bei der Tour de France können in Details davon abweichen. Auch Last-Minute-Prototypen konnten wir natürlich noch nicht untersuchen. Hintergründe zur Simulation. |
Unser Experte |
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Fotograf: Robert Kühnen |
Robert Kühnen ist studierter Maschinenbauer, schreibt für TOUR über Technik- und Trainingsthemen und entwickelt Prüfmethoden. Die Simulationsrechnungen verfeinert Robert seit Jahren, sie werden auch von Profi-Teams genutzt. |
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