Auffällig im Fall Relotius ist nach meinen Beobachtungen die Tatsache, dass sehr unterschiedliche Aspekte diskutiert werden, eine Auseinandersetzung mit der Geschichte auf vielen Ebenen stattfindet. Schaut man auf die Tweets und Posts mit den meisten Reaktionen, so finden sich dort vier Hauptgruppen: Beiträge, die sich mit dem Fall selbst und mit seinem Protagonisten auseinandersetzen, solche, die das System mit zahlreichen Journalistenpreisen hinterfragen, die genau solche Reportagen bevorzugen, wie sie Claas Relotius geschrieben hat, Gags und Scherze zum Thema, sowie Posts, die den Fall für politische Zwecke ausnutzen.
Unter Journalisten war der Aspekt Preise vielleicht der mit den meisten Diskussionsbeiträgen. So kam F.A.Z.-Redakteur Reinhard Bingener mit "Der Fall #relotius sagt auch etwas über einen Journalismus aus, in dem sogenannte 'Geschichten' als Leitwährung gelten. Die Wirklichkeit liebt es nicht, sich als 'Geschichte' zu präsentieren, dafür ist sie nämlich meist viel zu banal. Ist aber offenbar schwer zu akzeptieren" auf 1.000 Likes und Retweets, Philipp Mattheis von der WiWo war erfolgreich mit seinem Tweet "Weniger Preise, Auszeichnungen, Starkult und gegenseitige Eierschaukelei - würde dem Journalismus ganz gut tun" und Verena Mayer von der SZ erreichte viel Aufmerksamkeit mit dem Tweet "Der Fall Relotius bedeutet hoffentlich auch das Ende dieses seltsamen Reporter-Geniekults in unserer Branche. Die guten und relevanten Geschichten sind meistens die Arbeit von Teams und Netzwerken."
Auf sehr viel Aufmerksamkeit stieß auch der Tweet des NOZ-Chefredakteurs Burkhard Ewert: "Ich denke über #Relotius noch nach. Aber kann es sein, dass ihm auch darum geglaubt wurde, da seine Texte vielen ins Weltbild passten? Dass zum Thema also auch die Frage zählt, ob es in Mode gekommen ist, erwünschtes statt reales Geschehen abzubilden? Um Haltung zu zeigen und so?" Die Antwort auf diesen Denkanstoß kennen einige natürlich auch bereits - und versuchen, die Causa Relotius für ihre politischen Zwecke auszunutzen. So twitterte die AfD Heidelberg: "#SPON gibt zu in gigantischem Ausmaß #FakeNews veröffentlicht zu haben. Geschichten, die von vorne bis hinten frei erfunden waren. Der Journalist wurde durch seine Lügen zum preisgekrönten Medienheld der linksgrünen Schickeria", der Generalsekretär der österreichischen Partei FPÖ Harald Vilimsky schrieb auf Facebook u.a.: "Die EU will gegen Fake News vorgehen. Da kann sie gleich mal beim 'Spiegel' anfangen", die "Bürgerbewegung Pro Chemnitz" postete: "DER SPIEGEL: Also doch LÜGENPRESSE". Auch der frühere Spiegel-Schreiber Matthias Matussek äußerte sich auf Facebook: "Der Enthüllungskrimi im Spiegel. Jahrelang hat ein Reporter dort gefälscht und gelogen und wurde mit Reporterpreisen überhäuft. Kollege Juan Moreno, netter Kerl, mit dem ich gut könnte, hat ihn überführt. Aber wird die Lüge denn nicht täglich betrieben, durch Spins, durch Auslassungen, durch ideologische Tendenz?"
Und Claas Relotius? Der Autor löschte im Vorfeld der Enthüllungen sein Twitter-Account und äußerte sich auch sonst nirgends. Zwar musste er in den meisten Tweets und Posts einiges einstecken, doch es gab auch welche, die sich mit seinem Schicksal auseinander setzen. So twitterte Timo Lokoschat, der vor seinem Wechsel zur Bild eine Zeit lang beim Spiegel arbeitete: "Mir tun die Kollegen beim Spiegel leid. Mir tut aber auch Claas #Relotius leid. Ich habe ihn als unglaublich netten, hilfsbereiten und auch bescheidenen Kollegen erlebt. Es muss sehr viel schiefgegangen sein. Ich hoffe, dass er jemanden hat, der jetzt für ihn da ist."