Liebe/r Leser/in, es gibt Gedanken, die man sich tunlichst vom Hals hält: an die Steuererklärung oder Tante Gerdas Geburtstag, an Nebenkosten, Wurzelbehandlung und, als Ampelpolitiker, an Haushaltslöcher oder die Wahlen im Osten. Ein Gedanke, den ich selbst seit Monaten von mir fernhalte, ist die dräuende Wiederwahl des Donald J. Trump. Ich wollte mich schlicht nicht quälen mit der Frage, was der Wahnsinn hieße für Frauen, Bürgerrechte, Europa oder Selenskyj. Bis zur Vorwahl in New Hampshire hat die Negierung der Realität auch funktioniert. Doch dann, vor knapp zwei Wochen, siegte Trump so leichtfüßig, als gäbe es weder Gerechtigkeit noch Sühne, und ich las von seinem Vorsprung in allen Umfragen und auch den Swing States – und sah heute nun eines dieser Videos, die Trumps Propagandatruppe auf seiner Plattform Truth Social so gern verbreitet: Da schwebt die Erde zu sphärischen Klängen durchs Universum, und eine sonore Stimme erklärt: „Und am 14. Juni 1946 schaute Gott auf sein Paradies in Planung und sagte: Ich brauche einen, der sich darum kümmert. Also gab Gott uns Trump.“ Das ist keine Ironie, die meinen das ernst. Und „die“ sind viele. Wir müssen drei Tatsachen ins Auge blicken: 1. Trump zieht durch. 2. Seine Mobilisierung appelliert nicht an Logik, sondern an metaphysische Sehnsüchte. Seine Jünger sind unerreichbar für rationale Argumente. Sie glauben an ihren Messias und seinen Sieg. 3. Die Demokraten verhalten sich unverantwortlich – und mit jedem Tag mehr, den sie so tun, als sei good old Joe die beste Idee für die Zukunft der Weltmacht. Sie haben es sich bequem gemacht in kollektiver Verantwortungslosigkeit. Sie hoffen lieber auf Wunder – irrational wie Trumps Sekte –, als ihrem schwächelnden Kandidaten Goodbye zu sagen. „Als es im vergangenen Jahr darum ging, die Unterlagen für eine Kandidatur einzureichen, regte sich nicht ein Einziger“, schreibt unser US-Korrespondent Sebastian Moll in seiner Analyse ab Seite 40. „Die gesamte nächste Generation aussichtsreicher demokratischer Politiker reihte sich brav hinter Joe Biden ein.“ Sie alle verhalten sich feiger als Trumps letzte republikanische Gegenkandidatin Nikki Haley, die sich ihm weiter kampflächelnd in den Weg stellt. Die demokratischen Hotshots aber warten lieber in wohliger Sicherheit auf 2028, um sich dann, unschuldig wie die Gänseblümchen, auf die Bühne zu wagen. Wissen sie, was sie tun? Wenn sich nach dem 5. November „Messias“ als Diktator installieren sollte, tragen auch sie die politische Schuld. Michelle Obama hat einmal erklärt, ihre Leidenschaft für Politik sei begrenzt. In normalen Zeiten muss man das verstehen. Doch wir leben in einer Ära des greisen Größenwahns! Da ist mir die Leidenschaft einer Frau herzlich egal, die womöglich als einzige eine Katastrophe im Weißen Haus verhindern kann. Im August treffen sich die Demokraten zur Krönungsmesse in Chicago. Es ist die letzte Chance, ein ernst gemeintes Angebot an die Wähler zu machen. Bisher aber zeigt sich niemand mit dem nötigen Mut. |