Liebe/r Leser/in, das Land hielt den Atem an. Am 5. Juli 1993 brachte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ die Titelstory „Der Todesschuß“. Das Blatt zitierte einen anonymen Zeugen, der behauptete, er sei Tage zuvor bei der Anti-Terror-Aktion in Bad Kleinen zugegen gewesen und habe beobachtet, wie ein Polizist den wehrlos daliegenden RAF-Mann Wolfgang Grams per Kopfschuss hinrichtete.
Eine Story, die die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik erschütterte: Der damalige Innenminister Rudolf Seiters trat sofort zurück, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl verlor seinen Job, so wie etliche weitere Spitzenbeamte in den Polizeibehörden.
Heute wissen wir, die Story beruhte auf Desinformation. Der angebliche Zeuge hatte offenbar gelogen. Damals aber schien der Rechtsstaat für mehrere Wochen am Abgrund. Nach der Fälscher-Affäre um den „Spiegel“-Reporter Claas Relotius befasst sich nun auch – was Respekt verdient – die interne Kommission des „Spiegel“ mit den Recherchen des für die Bad-Kleinen-Story verantwortlichen Redakteurs Hans Leyendecker. Bereits vor einigen Wochen hatten wir über neue Details zu dieser Medien- und Staatsaffäre berichtet. Jetzt liegen uns entscheidende Dokumente vor, die belegen, dass „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein frühzeitig an der Seriosität der Story von Star-Reporter Hans Leyendecker zweifelte. Und wir berichten über ein vergessenes Gesprächsprotokoll, das jetzt endlich, nach 26 Jahren, die Wahrheit erzählen könnte – über den „Todesschuß“ von Bad Kleinen. Kommen wir zur aktuellen Politik. Die CDU gerät nach dem Thüringen-Chaos um die Ministerpräsidentenwahl immer tiefer in die Krise, immer mehr in den Strudel der Selbstfindung. Wie links oder rechts ist Deutschlands letzte Volkspartei, die immer noch die Kanzlerin stellt? Mit dem Scheitern der Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer scheitert auch Angela Merkel, deren Erbe die AfD ist und die gleichzeitig mit dem Thüringer Linken Bodo Ramelow flirtet.
In dieser Woche entbrannte nun der Machtkampf um den CDU-Vorsitz und damit um die Kanzlerkandidatur aufs Neue. Wen favorisierst du, fragen mich beinahe täglich politikinteressierte Freunde und Leser. Wenn einer Kanzler kann, dann ist es CSU-Chef Markus Söder, aber der steht aus guten Gründen nicht zur Verfügung und kann schließlich nicht CDU-Chef werden. Es bleiben also Jens Spahn, Armin Laschet und der zunehmend nervöse Friedrich Merz. Jens Spahn ist mir generationsmäßig am nächsten. In der vorvergangenen Ausgabe antwortete Jens Spahn im FOCUS-Gespräch auf die Frage, ob es eine Pionierleistung wäre, als erster schwuler Mann Bundeskanzler zu werden: „Es wäre eine Pionierleistung, wenn solche Kategorien keine Frage mehr wären.“ Das ist gut so. Spahn besitzt genau den Ehrgeiz, den unser Land jetzt braucht, und vereint modernen Konservatismus mit einem gesunden Selbstvertrauen. Aber weder ich noch meine Kollegen haben die CDU-Personalfrage zu entscheiden, sondern die Parteispitze. Und die will – wie Söder diese Woche durch die Blume empfahl – keine Solotänze à la Merz, sondern einen abgestimmten Formationstanz. Und den wird wohl der einflussreiche NRW-Ministerpräsident Armin Laschet anführen, wie Sie ab Seite 28 lesen können.
„Als Unternehmer bin ich für die Politik verdorben“, sagt der Vorzeige-Unternehmer Michael Otto auf Seite 44 in diesem Heft. Die Lebensgeschichte Ottos ist so interessant – lesen Sie sie!
In eigener Sache: Ihr FOCUS wurde ausgezeichnet. Bei den European Publishing Awards 2020 gewann unser Magazin den ersten Preis in den Kategorien „Politics & Society“ und „Infographic“. Wir sind stolz und freuen uns. Danke! |