Liebe/r Leser/in, man muss einen Menschen nicht bedingungslos mögen, um Mitgefühl zu empfinden. Es gehört zu unserem Wesen, Anteil am Schicksal anderer zu nehmen, auch der entfernteste Mensch hat ein Anrecht auf Nächstenliebe. Als Corona-Patient, den Spätfolgen plagen, fühle ich mit all jenen, die ebenfalls infiziert sind oder waren. Ich kenne um die 30 Menschen persönlich, die mit dem Virus im Körper kämpfen – auch wenn einige von ihnen bereits statistisch als genesen aufgeführt werden. Manche haben Hautausschläge, andere Herzprobleme und Atemnot, andere wiederum Haarausfall, einige Nervenschäden. Auch mit dem US-Präsidenten Donald Trump habe ich Mitgefühl, obwohl ich ihn nicht persönlich kenne und mich sein Krankheitsverlauf doch sehr wundert. Obwohl wir wissen, dass die zweite Infektionswoche für den weiteren Krankheitsverlauf entscheidend ist, feierte er an Tag sechs seiner Erkrankung bereits seine Entlassung aus dem Krankenhaus mit pompös inszenierten Bildern. Und in der Reihe „Historische Momente der Weltgeschichte“ stellte das Weiße Haus eilig eine Gedenkmünze vor – der Präsident, der sich plötzlich so gut wie seit 20 Jahren nicht fühlt, wird für seinen Sieg über Corona geehrt. Relativ schnell war übertönt, dass Trump nur Stunden zuvor in der Klinik unter anderem das Steroid Dexamethason und das Medikament Remdesivir verabreicht bekam, was eher nicht auf einen milden Verlauf rückschließen lässt. Remdesivir wird normalerweise erst verabreicht, wenn die Sauerstoffsättigung im Blut unter 94 Prozent liegt. Ich bin kein Arzt, ich kann die Krankenakte Trump nicht bewerten. Doch ich bin Corona-Patient, und eins weiß ich nun: So schnell geht dieser Mist nicht vorbei – weder im Körper eines Infizierten noch gesellschaftlich betrachtet. Covid-19 wird uns noch Monate, vielleicht Jahre fesseln. Deshalb sind Disziplin und Verantwortungsbewusstsein so wichtig. Deshalb ist die Gesichtsmaske mehr als ein Symbol der Nächstenliebe. Deshalb kann ich Markus Söder sehr gut verstehen, der die Corona-Feierhauptstadt Berlin mittlerweile am Rande der Nicht-mehr-Kontrollierbarkeit sieht und auch Jens Spahn, der diese Woche sagte, er könne nicht verstehen, dass es in Berlin Restaurants gebe, wo man mit Maske angeguckt werde, als wäre man vom Mond. Ich kann seine Beobachtung übrigens nur bestätigen. Und ich bin fassungslos, dass der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg als einziger der zwölf Stadtbezirke keine Corona-Hilfe der Bundeswehr zulässt, obwohl er zu den Bezirken mit den meisten Infektionen gehört. Lesen Sie dazu Jan Fleischhauer auf Seite 6. Fleischhauer XXL! Unser Kolumnist hat ein neues Buch geschrieben. Es heißt „How dare you! Vom Vorteil, eine eigene Meinung zu haben, wenn alle dasselbe denken“. Neben den besten (und umstrittensten) Kolumnen aus den vergangenen acht Jahren enthält es eine Reihe von Gesprächen mit Andersdenkenden und Lieblingsgegnern. Mit der Theologin Margot Käßmann hat Fleischhauer über die Sprache des Himmels gesprochen, mit der Feministin Sophie Passmann über das Ende des alten weißen Mannes, mit dem Verleger Jakob Augstein über die politischen Grenzen der Freundschaft. Einen Auszug des Gesprächs mit Augstein finden Sie auf Seite 90. Ich kann Ihnen das Buch sehr empfehlen. Es ist, wie immer bei Fleischhauer, sehr böse und auch sehr lustig. |