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Tagesspiegel Checkpoint vom Freitag, 04.03.2022 | Neblig-trüb bei um 5°C. | ||
+ Die russische Armee schreckt nicht davor zurück, Europas größtes Atomkraftwerk zu beschießen + Ein Interview mit „Memorial“-Expertin zur russischen Opposition und Zivilgesellschaft + Berlin empfängt die tausenden Ukraine-Geflüchteten mit warmem Mitgefühl + |
von Robert Ide |
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Guten Morgen, Acht Tage wütet Putins Krieg in der Ukraine. Das sind die wichtigsten Entwicklungen aus dieser nächsten schlimmen Nacht: - Die brutalen Bombardements der Zivilbevölkerung gehen weiter. Bilder internationaler Journalisten zeigen heftige Zerstörungen rund um Kiew. Doch die Hauptstadt hält weiter stand. - Russische Truppen haben Europas größtes Atomkraftwerk Saporischja angegriffen. Gefechte verursachten nach Angaben der ukrainischen Regierung auf dem Gelände Schäden, im Internet verbreitete Überwachungsvideos zeigten ein Feuer und Rauch. - In Reaktion auf den AKW-Vorfall in Saporischschja forderte Großbritannien eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats. Das „rücksichtslose“ Verhalten von Russlands Präsident Wladimir Putin könne „direkt die Sicherheit von ganz Europa bedrohen“, erklärte das Büro von Premierminister Boris Johnson. - Bei direkten Gesprächen sicherte Russland humanitäre Korridore für eingeschlossene Städte zu. Am dringendsten braucht diese die südukrainische Hafenstadt Mariupol. 450.000 Einwohner sind nach Luftangriffen ohne Strom, Heizung und Wasser; Russland blockiert die Versorgung. - Die Verteidigungsministerien von Russland und den USA haben einen heißen Draht eingerichtet, um „Fehleinschätzungen, militärische Zwischenfälle und Eskalationen“ zu vermeiden. - Die Zensur in Russland nimmt deutliche Ausmaße an: Facebook und Twitter meldeten Störungen, App Stores waren nicht mehr erreichbar, ausländische Medienseiten wurden blockiert. Derweil fällt der Rubel ins Bodenlose, die Börse in Moskau bleibt aus Angst vor dem Ausverkauf geschlossen. - Diese vier Länder haben in der UN-Vollversammlung zusammen mit Russland gegen eine Resolution gestimmt, die die Invasion beklagt: Belarus, Syrien, Nordkorea und Eritrea – alles lupenreine Diktaturen. Unser Tagesspiegel-Newsroom ist rund um die Uhr besetzt. Die aktuelle Nachrichtenlage können Sie hier im Blog verfolgen. Über die Auswirkungen auf Berlin berichten wir hier in einem Newsblog. Wie können Sie jetzt helfen? Wer oder was wird wo gebraucht? Wie kann man spenden? Antworten finden Sie hier. | |||
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Es ist die vielleicht kleinste, aber doch wichtigste Hoffnung der Welt: Wann begehrt Russland gegen den Tyrannen Putin auf? Opposition und Zivilgesellschaft sind inzwischen nahezu zerstört worden, mit „Memorial“ wurde gerade erst die größte zivilgesellschaftliche Organisation des Landes verboten. Von Berlin aus arbeitet der Verein, der sich um die Aufarbeitung sowjetischer Verbrechen kümmert und Opfer auch der heutigen Diktatur berät, weiter vom „Haus der Demokratie“ in Prenzlauer Berg aus. Wir haben mit Anke Giesen vom Vorstand von „Memorial“ gesprochen, welche Hoffnung es jetzt noch für Russland geben kann. Frau Giesen, in Russland wurden bereits Tausende wegen der Proteste gegen den Krieg verhaftet. Was droht den Menschen nach einer Festnahme? Manche werden wieder freigelassen, einige kommen für 14 Tage in eine Arrestanstalt. Gegen andere werden Prozesse geführt, dabei drohen längere Haftstrafen. Es ist alles sehr willkürlich. Einige werden rausgegriffen, um andere abzuschrecken. Die Propaganda in Russland ist allgegenwärtig. Nun sollen sogar Kinder in Schulen gelehrt werden, dass der Krieg in der Ukraine gar kein Krieg sei. Wie sehr ist die Wahrheit schon in der russischen Gesellschaft angekommen? Ganz unterschiedlich. Der Teil der russischen Bevölkerung, der sich im Internet informiert oder bisher bei Facebook vernetzt hat, weiß genau, was gespielt wird. Viel Ältere kennen nur das Fernsehen, da herrscht absolute Propaganda. Eines aber sickert langsam durch: In der Ukraine sind vor allem Wehrpflichtige eingesetzt. Sie wähnten sich auf einem Manöver, plötzlich finden sie sich als Aggressoren im Nachbarland wieder. Viele junge Russen sind gefallen, das breitet sich in den Familien aus. Aber es dauert. Glauben Sie, dass die harten Sanktionen und weltweite Isolation von Russland dieMenschen zum Nachdenken bringen? Die Versorgung wird bald sehr schwer werden. Geld wird knapp, kleine Freuden wie eine Pauschalreise in die Türkei werden unerschwinglich. Viele werden das Putin zuschreiben, andere werden sich vom Westen bestraft fühlen. Wegen der Sanktionen dürfte es auf absehbare Zeit nicht zu einem Volksaufstand kommen. Wahrscheinlicher ist ein Aufstand im erweiterten Machtzirkel – wenn die bisherige Elite ihre Chancen und die Zukunft ihrer Kinder schwinden sieht. Viele junge Menschen verlassen Russland, die Opposition ist eingesperrt, die letzten freien Medien werden verboten. Gibt es überhaupt Möglichkeiten, sich noch unabhängig zu engagieren? Man darf mit Schülern noch unverfänglich im Park Blumen pflanzen, mehr nicht. Alles, was nach Partizipation verlangt oder auf Missstände hinweist, etwa in der Umweltpolitik oder der medizinischen Versorgung, ist mit hohen Risiken verbunden. Das Fenster für Zivilgesellschaft wird immer enger. Im Krieg schließt es sich ganz. Auch Ihre Organisation „Memorial“ wurde verboten. Welche Kontakte haben Sie noch nach Moskau? Bisher ist unser internationaler Dachverband und unser Menschenrechtszentrum verboten worden. Es existieren noch 60 örtliche Organisationen. Aber unsere Finanzierung ist völlig unklar. Wenn wir Spenden aus dem Ausland annehmen, könnten wir wieder als Agenten verurteilt werden. Wir versuchen also, Zeit zu schinden und schnell unsere Archive zu digitalisieren. Solange unsere Mitarbeiter nicht gefährdet werden, tun wir das, was noch geht. "Memorial" arbeitet in Berlin weiter. Woraus besteht Ihre Arbeit gerade? Aktuell unterstützen wir die Gruppe von Memorial Charkiw, die auf der Flucht vor den Bomben ist. In Deutschland pflegen wir die Geschichte von Opfern der Sowjetunion, bringen Gedenktafeln an Häusern von Verschleppten an. Wir sind auch Auffangbecken für junge Russen, die jetzt nach Berlin kommen. Diese europäisch geprägte Generation war meine Hoffnung für Russland, nun flieht sie. Gibt es noch Hoffnung für Russland? Zurzeit kommen alle schlechten Seiten der russischen Geschichte zum Vorschein: die Rhetorik der Sowjetunion, der Kolonialanspruch des 19. Jahrhunderts, die Gewalt von Iwan, dem Schrecklichen. Aber die Geschichte zeigt: Ewig existieren Kolonialstaaten nie. Die Frage wird sein, wie lange Russlands Niedergang dauert, wie viele Menschen darunter leiden müssen. Aber der Niedergang hat schon begonnen. | |||
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Das Leid der Menschen in der Ukraine – neu ist es nicht. Seit der Besetzung der Krim und dem Guerillakampf in der Ostukraine kann man wissen, dass der Kreml keinen Frieden will und Russlands Militär Unterwerfung durch Zerstörung bringt. Der ukrainische Film „Klondike“, der gerade auf der Berlinale seine Weltpremiere hatte, zeigt das Leiden von Frauen im Krieg in Nahaufnahme. Regisseurin Maryna Er Gorbach, die in Istanbul wohnt und deren Familie in Kiew ausharrt, erzählt im Interview mit meinem Kollegen Andreas Busche: „Schon vor drei Jahren, als wir in der Ukraine drehten, war mir klar, dass dieser Krieg nicht auf eine Region beschränkt bleibt.“ Die Europäer hätten das nicht wahrhaben wollen. Allerdings sei die russische Armee damals wie heute sehr unprofessionell organisiert. „Alles, was wir in der Ukraine erleben, geschieht außerhalb militärischer Regeln, es herrscht Anarchie.“ Weniger gefährlich für die Menschen ist das nicht. | |||
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In Berlin kommen derweil Tag für Tag Tausende Flüchtlinge an. Hunderte Freiwillige erwarten sie, versorgen sie mit Essen und Informationen, stellen spontan Schlafplätze bereit. Der Hauptbahnhof wird zum Knotenpunkt der Hilfe (Video hier), ebenso das schnell überlaufene Aufnahmezentrum in Reinickendorf. Was auch auffällt: Der Senat kommt mit der Organisation der Hilfe nicht so schnell nach, wie die freiwilligen Helferinnen und Helfer es spontan vormachen. Während Schülerinnen und Schüler mit Demos Zeichen setzen (Motto in Prenzlauer Berg: „Putin Scheiß, Ukraine nice“), immer mehr Häuser und Rathäuser mit Ukraine-Fahnen beflaggt werden, privat organisierte Wagen und Busse voller Hilfsgüter zur polnisch-ukrainischen Grenze fahren sowie Netzwerke von Kleingärtnern bis zu Großvermietern von Ferienwohnungen eilig Unterkünfte organisieren, schlägt an den Gleisen der ankommenden Züge das Herz der Stadt, warm und voller Mitgefühl. Berlin kann Krise. Und Menschlichkeit. | |||
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Wie sehr der Krieg auch die Verbindungen der russischsprachigen Community in Berlin bedroht, hat mir ein Besuch bei Jandro gezeigt. Er verlor vor vielen Jahren sein Herz an Aljona. Und an die Ukraine, an die Herzlichkeit ihrer Menschen. Nun blutet alles. Der 48-Jährige betreut das Vereinsheim eines Ruderclubs am Wannsee, seine drei Jahre jüngere Frau kocht hier normalerweise ukrainisch, da schmeckt die Bolognese nicht bloß nach Tomate. Doch seit der Krieg begonnen hat, ist sie nur noch zu Hause in ihrer Wohnung in Marzahn und hält eine Standleitung zu ihrer 75-jährigen Mutter, die es nicht rechtzeitig aus ihrer Heimat herausgeschafft hat. Jandro und Aljona sind zu Hause in Berlins russischsprechender Community: Ukrainerinnen, Russen – bisher waren sie Schwestern und Brüder. Aljona ist Ukrainerin, hat auch mal zehn Jahre in Moskau gelebt. Wegen Jandro zog sie dann her. „Weil wir uns eben lieben“, sagt er stolz. Aljonas Mutter ist noch dageblieben. Ihre Schwester. Deren Sohn. Die ganze Familie ist plötzlich eingeschlossen im Krieg. Jandro und Aljona bangen in Berlin ohnmächtig um ihr Schicksal. Meine neue Liebeskolumne kann man hier lesen – über ein Paar, das Unaushaltbares aushalten muss. | |||
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Und das hier sollten Sie auch wissen: - Russlands Überfall wird nicht nur von viel Leid begleitet, sondern auch von gezielter Desinformation. Auf einer Karte versuchen wir daher, einen sachlichen Überblick der aktuellen Situation zu geben. Sie zeigt an, welche Gebiete von russischen Streitkräften oder Separatisten eingenommen wurden und welche Gebiete die Ukraine weiterhin verteidigen kann – zu sehen hier. - Auch der virtuelle Krieg ist real. Die Invasion in der Ukraine kann auch auf uns übergreifen, zumindest durch gezielte Cyberattacken aus Russland. Deutschland wäre darauf nicht gut vorbereitet, sagt Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg im Interview – nachzulesen hier. - Erst die Corona-Pandemie, jetzt der Krieg in Europa: Seit zwei Jahren leben wir unter dem Gefühl einer ständigen Bedrohung. Wie man damit am besten auch psychisch klarkommt und wo man professionelle Hilfe findet, zeigen wir mit zehn Tipps gegen die Angst – zu finden hier. | |||
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Jetzt noch drei Dinge, über die man beschämt sein darf: - Gerhard Schröder steht immer noch in Diensten von Kriegsverbrecher Putin. Der Alt-Kanzler stellt sich damit gegen die Sanktionen seines Landes, dem er im höchsten Amte verpflichtet war, und macht sich so nicht nur in der SPD unmöglich. Sein Kommentar bisher dazu: Schweigen. - Der Retorten-Bundesligist RB Leipzig, der nach Kriegsbeginn noch gegen Spartak Moskau antreten wollte, möchte die „Siegprämie“ für das nun doch ausfallende Spiel von zwei Millionen Euro lieber für sich behalten als sie zu spenden. Der Kommentar von Klubchef Oliver Mintzlaff: „Die, die jetzt fordern, wir sollen das spenden, die sollen erst einmal selber spenden.“ - Die Isolation Russlands wird von manchen in Deutschland zu weit getrieben, so dass auch russische Lokale, Geschäfte und Menschen in Berlin unter Anfeindungen leiden müssen. Dabei leiden sie meist selbst unter Putins Krieg. Dazu ein Kommentar aus dem Spirituosenregal: „In letzter Zeit wurden wir vermehrt darauf angesprochen, ob Wodka Gorbatschow ein russisches Produkt sei. Dies ist nicht der Fall! Wodka Gorbatschow ist eine deutsche Marke, die 1921 in Berlin gegründet wurde. Ihr Wodka Gorbatschow Presse-Team.“ So hart kann kein Alkohol sein wie manchmal das Leben. | |||
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