Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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13. Dezember 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
am Ende dieses Jahres reicht’s nun wirklich mit den historischen Ereignissen. Als studierter Nebenfachhistoriker, vor allem aber als Freund der deutschen Sprache, bin ich dem um sich greifenden Hyperbelismus sehr abhold. Für jene Teile der Leserschaft, die sich gerne über Fremdwörter beschweren: Hyperbel bedeutet in diesem Zusammenhang „Übertreibung“, und Hyperbelismus habe ich möglicherweise erfunden, jedenfalls weiß Google nichts davon. Die Suchmaschine ist relativ doof und glaubt, ich meinte Hyperbolismus.

Zum täglichen Hyperbelismus gehören gemütsbeschreibende Begriffe wie „fassungslos“ oder „verstört“. Entspräche der psychische Zustand all jener, die diese Begriffe auf sich und andere beziehen, tatsächlich fassungsloser Verstörtheit, wäre das Land voller, sagen wir mal, psychisch Beeinträchtigter. Manchmal kann man zwar den Eindruck bekommen, es sei wirklich so. Aber das ist jetzt zynisch und trägt nichts zur Debattenkultur bei (auch das ist ein Wort, dem ich eher ausweichen würde, begegnete ich ihm denn in der Fußgängerzone). Der neue Hyperbelismus hat damit zu tun, dass man mit Übertreibungen im Netz mehr Aufmerksamkeit erregt. Wer am lautesten schreit, wird als Erster gehört. Und man kann mit Übertreibungen ganz ohne Ton sehr laut schreien.

„Historisch“ gehört meistens zu den Hyperbeln, zum Beispiel wenn Holstein Kiel gegen Heidenheim gewinnt und das dann als „historisch“ bezeichnet wird, weil es der erste Bundesliga-Sieg der Kieler war. Weil der Begriff „historisch“ so häufig für Unhistorisches benutzt wird, hat er sehr an Bedeutung verloren. Wenn alles historisch ist, ist nichts historisch. Das meiste, was als historisch bezeichnet wird, ist im besten Falle bemerkenswert, interessant oder außergewöhnlich. In hundert Jahren aber interessieren sich dafür nur noch Nerds.

Dennoch ist in diesem Jahr das eine oder andere Historische passiert. Die Wiederwahl Trumps war ein historisches Ereignis, der Sturz Assads auch. Das vorzeitige Ende der Ampelkoalition dagegen war sehr bemerkenswert, wird aber – Vorsicht, Spekulation! â€“ in einer 2050 in der Publi-Cloud erscheinenden Geschichte Europas nicht viel mehr als ein Absatz sein, wenn es dann noch Absätze geben sollte. Das übrigens wäre etwas, was mich auf meine älteren Tage noch mal reizen könnte: als Zukunftshistoriker zu arbeiten. Zwar ist das ein Widerspruch in sich, aber für Menschen, die mehr Vergangenheit hinter sich als Zukunft vor sich haben, wäre die Möglichkeit, das eine mit dem anderen zu verbinden, nahezu historisch. Es würde mich fassungslos machen, wenn das ginge. Es geht aber nicht.

Der Sturz Assads hat mich daran erinnert, dass ich manchmal als eine Art zufälliger Eckensteher ein bisschen Geschichte gerochen habe. Ende Oktober 2000 war ich mal als Berliner SZ-Korrespondent im Gefolge des damaligen Kanzlers Schröder in Damaskus. Baschar al-Assad war ein paar Monate vorher als Nachfolger seines Vaters zum Präsidenten „gewählt“ worden. Die Generalität war misstrauisch, weil sie fürchtete, der junge Assad könne liberaler sein als sein Vater. War er aber nicht. Er ließ im Laufe der Zeit noch mehr Menschen als sein Vater umbringen. Jedenfalls saßen Deutsche und Syrer an runden Tischen in einem fast leeren, riesigen Saal und schauten auf Schröder und Assad, die mit jeweils ein paar Hintersassen das Essen an einem langen Tisch nebeneinander sitzend zu sich nahmen. Links und rechts neben mich hatte man schnurrbärtige Generale platziert, die jeden Versuch von Smalltalk schweigend abwehrten. Manchmal redete ich über so einen Schweigegeneral hinweg mit einem Journalisten-Kollegen. Schröder und Assad sprachen ebenfalls kaum miteinander. Wenn sie einen Gang beendet hatten, bekamen wir auch das Essen weggenommen. Das war kein historisches, sondern ein absurdes Abendessen. Aus heutiger Sicht war es verstörend.

Ähnlich ging es mir mal in Togo. Mitte der Achtzigerjahre war ich mit einer Handvoll Kollegen zu einer Interview-Lunch-Audienz bei Gnassingbé Eyadéma, dem Präsidenten auf Lebenszeit von Togo. Eyadéma war ein erfahrener, mehrmaliger Putschist, der angeblich, was aber nicht sicher ist, einen seiner Vorgänger eigenhändig erschossen haben soll. Er war außerdem Träger des Bayerischen Verdienstordens, weil Franz Josef Strauß ihn und Togo mochte, das ein paar Jahrzehnte lang deutsche Kolonie gewesen war, dort gerne jagte und sein Freund Josef März aus Rosenheim in Lomé unter anderem eine Wurstfabrik betrieb. (Wenn ich das heute so hinschreibe, denke ich mir: Das kann doch alles nicht so gewesen sein. Doch, es war so.) Eyadéma jedenfalls grummelte, monologisierte und manchmal schrie er uns auch an. Insgesamt dauerte es zweieinhalb Stunden. Irgendwie war ich ganz froh, dass ich ein Rückflugticket hatte und wohl auch, anders als manche Togolesen, nicht in irgendeinem Loch verschwinden würde. Als Eyadéma 2005 starb, hatte er 38 Jahre lang regiert. Frankreich hatte den Militärdiktator immer unterstützt. Historisch.

Der Historiker Frank Bösch hat ein gutes Buch geschrieben, in dem er die Geschichte der Bundesrepublik aus dem Blickwinkel beschreibt, wie und warum sich alle Kanzler mit Diktatoren, Putschisten und Staatsverbrechern abgegeben haben oder dies mussten. Es heißt „Deals mit Diktaturen“. Man kann daraus vieles lernen, auch wenn man nicht mit Assad oder Eyadéma gegessen hat. Liest man so etwas, weiß man besser, was wirklich historisch ist.
Kurt Kister
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Wirtschaft first, Menschenrechte später
In seiner großen Analyse "Deals mit Diktaturen" schildert der Historiker Frank Bösch, wie deutsche Regierungen seit 1949 im Umgang mit Autokratien stets ohne ethische Skrupel agierten. Einerseits eine große Chronik der Skandale - andererseits verheddert sich der Autor bei der Methodik.
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