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| | | | | Guten Tag, der Freund, von dem ich in einem dieser Briefe neulich berichtet hatte, ist jetzt in Venedig. Vielleicht erinnern Sie sich: Er hatte mir am Telefon erzählt, er werde stante pede am 3. Juni, wenn die Italiener die Grenzen wieder aufmachen, nach Venedig fahren, um dort zu sein, wenn auÃer ihm noch kaum jemand dort ist. Er hat mir jetzt ein Bild vom Canal Grande geschickt, auf dem auÃer dem Canal Grande nichts zu sehen ist. Also ânichtsâ stimmt nicht, denn man sieht die Häuser links und rechts des Kanals, aber sonst keine Menschen, nicht einmal Venezianer. Auf meine über die SMS-Maschine gestellte Frage, wie es denn sei in Venedig am 3. Juni, schrieb er zurück: âLeer. Wirklich.â Es wird allerdings weder leer noch wirklich bleiben. Bereits an diesem Wochenende werden sich mutmaÃlich die Münchner in mundnasengeschützten Kolonnen Richtung Gardasee wälzen, weil der Starnberger See ja nur eine Art Altwasser des Gardasees ist und von den Münchnern am Pfingstmontag schon so intensiv belagert wurde, als sei Percha Lazise. Sollten Sie übrigens zu jenem Teil der Bevölkerung gehören, in dessen Leben weder der eine noch der andere See eine Rolle spielt, sind Sie entweder glücklich oder ein PreuÃe. Mit letzterem Begriff sind keineswegs nur Menschen gemeint, die in jenen Regionen leben, die einst das 1947 vom Alliierten Kontrollrat endgültig aufgelöste PreuÃen bildeten. Nein, PreuÃen sind in erster Linie alle Nicht-Bayern, die weder Sachsen noch Schwaben noch Hannoveraner sind. In diesem Sinne können sowohl Mecklenburger als auch Argentinier als auch Nigerianer PreuÃen sein. (Bitte senden Sie keine Mails, in denen Sie mir erklären, dass die Badener, die Ostwestfalen oder andere ethnische Gruppierungen den PreuÃen heftigsten Widerstand geleistet hätten. Gerade weil es PreuÃen nicht mehr gibt, gibt es weltweit so viele PreuÃen. Bill Gates sieht das genauso.) Jedenfalls ist jetzt manches wieder so, wie es früher war. Ãsterreich zum Beispiel ist nicht mehr jenes Land, auf das der bayerische Ministerpräsident wegen der Wiener Corona-Politik so schaut wie einst Regensburger Bischöfe auf Rom geschaut haben. Nein, Ãsterreich ist wieder ein geomorphologisch überwiegend ansprechend gestaltetes Land, das zwischen Bayern und Italien liegt, ohne allerdings so groà zu sein, dass man es nicht zügig durchfahren könnte, wenn man das will. (München-Florenz zum Beispiel dauert mit dem Auto und zwei Espressi ungefähr acht Stunden, Ãsterreich sind dabei nur zwei davon.) Natürlich ist es gut, dass Gott auch Ãsterreich geschaffen hat, obwohl möglicherweise die Pariser Vorortverträge 1919/20 bei der heutigen Gestalt Ãsterreichs eine gröÃere Rolle gespielt haben als der Herrgott. Venedig jedenfalls, das auch mal österreichisch war, ist leer, zumindest ein paar Tage lang. Smst mein Freund, der es wissen muss, weil er gerade dort ist. Wie gesagt, das wird nicht so bleiben, denn der moderne Mensch, egal ob PreuÃe oder Nicht-PreuÃe, wird sich in der Nach-Corona-Zeit nicht wesentlich anders verhalten als in der Vor-Corona-Zeit, auch wenn ganze Kompanien von Essayisten und Essayistinnen in ihren Essays beschwören, dass jetzt alles anders werden muss. Speziell der Essayist (und auch seine Kollegin) lebt davon, solche Dinge zu beschwören. Tut er es mit deutlichen Worten, gilt er als âmeinungsstarkâ. Das freut den Essayisten, so wie sich der Käser freut, wenn er einen guten Käse macht. (Seltsam, was es für Assoziationen gibt. Als ich gerade âder Käserâ schrieb, habe ich nicht an Siemens gedacht. Jetzt schon.) Venedig also wird mutmaÃlich in ein paar Monaten wieder bevölkert und spätestens nächstes Jahr wieder überlaufen sein. Die immer noch anhaltende Krise hat vieles deutlich gemacht, unter anderem auch, dass noch nie so viele Menschen aus so vielen Ländern zum Vergnügen oder zu Geschäftszwecken gereist sind wie im 21. Jahrhundert. Dass das âleereâ Venedig so eine kleine Sensation ist, hängt damit zusammen, wie sehr gegenwärtig das Nichtvorhandensein dessen auffällt, was sonst die Normalität ist: Menschenmassen am Canal Grande, in Neuschwanstein oder auf Mallorca. Betrachtet man das nicht ökonomisch, sondern philosophisch, bedeutet es auch, dass die Multiplikation des Abstandsgebots â bleib nicht nur zwei Meter weg, sondern ganz â das Wohlbefinden der noch Anwesenden deutlich erhöht. Man misst seine Zufriedenheit daran, dass etwas nicht da ist. Venedig ist leer. Wirklich. Aber wie wirklich ist das? In normalen Zeiten fallen die Leute ja in Venedig ein, weil sie eine Vorstellung davon haben, was Venedig ist. Je mehr Menschen so eine Vorstellung haben, und je mehr Menschen diese Vorstellung in Venedig selbst, sagen wir, âüberprüfenâ können, desto weniger entspricht der Ort ihrer Vorstellung. Sie besuchen ein Venedig, das sie aus Bildern, Büchern und Filmen (übrigens ist âWenn die Gondeln Trauer tragenâ immer noch sehr sehenswert) zu kennen glauben, und stellen dann fest, dass es nicht so ist. Ob es jemals so war, ist eine ganz andere Frage. Jedenfalls war es nie so, wie die Verfilmungen der Romane von Donna Leon insinuieren. Andererseits passt es in unsere Zeit, dass etliche Menschen ihr Venedig-Bild aus der deutschen TV-Verfilmung von Romanen einer Amerikanerin beziehen, also aus einer doppelten, wenn nicht vierfachen Fiktionalisierung. Schade, dass Walter Benjamin das nicht mehr erlebt. Schon der alte Schopenhauer hat über die Welt als Vorstellung nachgedacht. In Verona zum Beispiel bekommt man einen Balkon gezeigt, auf dem angeblich Julia gestanden hat und Romeo darunter. Weil die Macht der Vorstellung, die mit Shakespeares Drama begann, so groà ist, ist aus der Fiktion Realität geworden. Der Balkon ist vorhanden, der Rest ist Vorstellung, die aber so wirklich ist, dass der Balkon auf der Website Tripadvisor 391 Bewertungen hat, also existieren muss. Selbst wenn man sich in jenem veronesischen Hinterhof einen Aluhut aufsetzt, geht der Balkon nicht weg. Er ist wirklich. Und damit sind wir bei der echten Durchdringung der SMS meines Freundes. (Sie erinnern sich, Venedig sei âLeer. Wirklichâ.) Wenn Venedig leer ist, ist es eben nicht wirklich. Denn Venedig in der Realität ist dadurch definiert, dass es praktisch immer überlaufen ist, was der PreuÃe âOvertourismâ nennt. Ein leeres Venedig ist so wie der Balkon der Julia in Verona: Es ist aus der Vorstellung der Menschen dank Corona kurzzeitig in die Realität gewachsen, ohne deswegen âwirklichâ zu sein. âWirklichâ ist nur das volle Venedig. Daraus kann man logisch schlieÃen, dass mein Freund nicht im wirklichen Venedig ist, sondern in einem Venedig der Illusion, einem leeren Venedig. Vielleicht kann man in ein paar Wochen ja noch ein leeres Florenz erleben. Sie glauben das nicht? Ich auch nicht. Wirklich nicht. Kurt Kister Chefredakteur
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