Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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12. Januar 2024
Deutscher Alltag
Guten Tag,
in Berlin, der größten kleinen Hauptstadt der Welt, spielt sich wieder mal ein Hauptstadtdrama ab. Der Regierende Bürgermeister von der CDU ist mit der Bildungssenatorin, ebenfalls von der CDU, mehr als nur politisch liiert. Beide sagen, sie hätten sich menschlich, also amourös, erst nach ihren jeweiligen Amtsantritten gefunden. Die größte kleine Hauptstadtpresse der Welt wendet nun hin und her, ob das mit dem Zeitpunkt wohl stimmt und inwieweit eine solche Beziehung unbotmäßige Abhängigkeiten, Intransparenz oder Privatprivilegien schafft. Und wie das so ist in Berlin (und nicht nur dort), gibt es Rücktrittsforderungen aus Politik, Presse, Funk und Fernsehen sowie natürlich aus den unsozialen Medien: Der Bürgermeister soll gehen, die Senatorin soll gehen, beide sollen gehen. Nach neuerlichen Wahlen hat bisher noch niemand gerufen, vielleicht auch weil man weiß, dass die Organisation von Wahlen nicht zu den Stärken der größten kleinen Hauptstadt der Welt zählt.

Es ist ja wahr, man muss gerade am Arbeitsplatz – sogar der Berliner Senat gilt als ein solcher – darauf achten, dass durch persönliche Verquickungen nicht jemand Vorteile genießt, die andere nicht genießen, weil sie in dieser Hinsicht unverquickt sind. Selbst wenn es bei und in solchen Beziehungen nicht um julianreicheltmäßigen Machtmissbrauch geht, sondern vielleicht sogar um Liebe, mindestens aber um gegenseitige Anziehung, dürfen Chefin und Partner beziehungsweise Chef und Partnerin (sowie alle anderen denkbaren M/w/d-Konstellationen) eigentlich nicht in einem Vorgesetzt-Untergeben-Verhältnis verbleiben. Liebe macht bekanntlich blind, mindestens aber zieht sie Wahrnehmungsstörungen nach sich („Der Etat ist zu wichtig, um ihn zu kürzen, nicht weil er Kathis Etat ist, sondern weil er halt wichtig ist“). Und wenn die Liebe oder die Anziehung dann früher oder später mal verloren gehen, beeinträchtigt das die unvoreingenommene Wahrnehmung noch mehr.

In der guten alten vordigitalen Zeit lernten sich die meisten Menschen am Arbeitsplatz kennen. Heute bedienen sie sich einer Dating-App, die, etwa wie eine Gebrauchtwagen-App, den Vorteil hat, dass man von zu Hause aus eine relativ große Anzahl potenzieller Objekte der Begierde durchscrollen kann. Man begegnet auf diese Weise zwar virtuell einer Menge Ms. Wrongs oder Mr. Nerds, aber immerhin legt die Auswahl nahe, dass tendenziell auch Mr. Right oder Ms. Dream darunter sein könnten. So eine Dating-App ist zwar ohne Aura und daher für Walter-Benjamin-Freunde ein Gräuel (die Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit). Aber wer liest heute schon noch Benjamin?

Jedenfalls haben sich der Bürgermeister und die Senatorin noch, wie man auch in Berlin gerne sagt, „auf Arbeit“ kennengelernt. Das ist ziemlich 20. Jahrhundert und in diesem Fall (siehe oben) auch noch problematisch. Mit einer Dating-App wäre das nicht passiert.

Eine (leider) nur theoretische Möglichkeit, solchen Fährnissen überhaupt zu entgehen, wäre die eingeschlechtliche Fortpflanzung sowie deren eher kalmierende Auswirkungen auf Gefühls-, Trieb- und Psycholeben. Hätte Gott das mit Eva und Adam einfach sein lassen und statt der beiden nur eine/n Adevam geschaffen, gäbe es viele Probleme nicht. Das Adevam würde sich durch Zellteilung vermehren, und man müsste sich im Alter zwischen zwölf und mindestens 65 nicht dauernd den Kopf und andere Körperteile darüber zerbrechen, ob, wann und wie man einen amourös und auch sonst anziehenden Menschen findet oder behält. Man könnte zwar ein soziales Wesen sein, aber im Grunde wäre man sich selbst genug, weil man ja Adam und Eva in einem wäre.

Doch, doch, es könnte schon Beziehungen geben, aber eben nicht solche, die von leidenschaftlichem Auf- und Abwallen geprägt wären, sondern von warmem Pragmatismus („Ich würde gern in deiner Gegenwart meine Zellen teilen“). Es gäbe keine zu Machtgebrauch und Dominanz geprägten und sozialisierten Männer, die wiederum Frauen unterdrückten. Man müsste nicht gendern, Sigmund Freud wäre Chirurg oder Bauer geworden, und das Regierende Bürgermeister hätte eine ausschließlich professionelle, vielleicht pragmatisch warme Beziehung zu das Bildungssenator, die Berlin nur nutzen würde. Niemand müsste zurücktreten, und kein gewesener oder amtierender Ministerpräsident in einem riesenkleinen Bundesland im Süden hätte eine uneheliche Tochter, es sei denn, zellgeteilt mit sich selbst.

Ja, es gäbe auch manches an Glück nicht, aber als Adevam-Menschheit, die es nicht anders kennte, wüssten wir ja nicht, welche Art von Glück uns fehlt. Das Glück der Zweisamkeit? Wäre schon möglich, aber anders – keine Kerzen, keine Unser-Lied-Rührung, kein Oh-oh-oh, aber auch keine stundenlangen Debatten darüber, wer was wann gesagt hat. Wahrscheinlich würden sich nicht alle mit der Einwesenexistenz abfinden. Vermutlich gäbe es Aktivisten, die für eine Anerkennung von Adevams Alpha, Beta und Gamma stritten, weil sie mehr als nur eine Adevam-Daseinsform tatsächlich oder gefühlsmäßig wahrnehmen würden. Vielleicht würden die dann „sie“ und „er“ wieder einführen wollen.

Bedauerlicherweise verschließt sich die Realität meistens jenen Lösungen, welche die Fantasie und die Lebenserfahrung eigentlich nahelegen.
Kurt Kister
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