| | | | | 25. Oktober 2024 | | Deutscher Alltag | | | |
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| | | | | es ist wieder Konzertsaison, und von Wagners Rheingold über Bonnie Prince Billy bis zu Jan Garbarek kann man, zumindest in München, alles Mögliche sehen und hören, wenn man denn MuÃe, Geld und Eintrittskarten hat. Dieser Tage war ich bei Jethro Tull, deren Frontmann Ian Anderson für seine 77 Jahre immer noch ziemlich beweglich ist, wenn er auch nicht mehr die Querflöte auf einem Bein stehend spielt. Er ist auch nicht mehr langhaarig, sondern kaum haarig, sodass die Ãhnlichkeit zwischen ihm und Joschka Fischers früherem AuÃenminister-Sprecher Walter Lindner nicht mehr groà ist, weil Lindner, 67, immer noch einen Pferdeschwanz hat. Lindner, heute Pensionär, war meines Wissens der einzige pferdegeschwänzte, Rock-Querflöte spielende AuÃenamtsstaatssekretär in der gesamten Geschichte des diplomatischen Dienstes, seitdem Otto von Bismarck 1862 zum preuÃischen AuÃenminister ernannt wurde. Wie alle wissen â auf die Jüngeren nehmen wir jetzt mal keine Rücksicht â, gibt es ein paar Songs von Jethro Tull aus ihrer ProgRock-Phase, die man in der ersten Hälfte der Siebziger, so man da schon Haare unter den Achseln hatte, kennen musste, weil man sonst ein musikalisch halbtotes Schlager- oder Hackebeat-Wesen war oder glaubte, Pink Floyd seien Gott (Gott hat schon 1970 dementiert, dass er Pink Floyd sei). Etliche der gröÃten Jethro-Tull-Songs sammelten sich auf der LP âAqualungâ von 1971. Ungefähr 87 Prozent der Menschen, die vergangenen Samstag bei dem Ian-Anderson-Konzert waren, warteten darauf, dass diese Songs gespielt würden. Weil es ein Identitätsmerkmal dieser Kolumne ist, dass die Leserschaft vom Speziellen zum Allgemeinen und schlieÃlich zum Absurden geführt wird (bei der SZ insgesamt ist es eher umgekehrt), folgt nun das Allgemeine: Die Lebenserfahrung lehrt, dass man oft etwas erwartet, das dann nicht eintritt. Je häufiger das passiert, desto weniger erwartet man vom Leben, von den Menschen, von der Politik oder im Spezialfall auch von Jethro Tull. Letztere spielten in München ganze zwei Songs von âAqualungâ, beide klangen nicht so wie damals in Andis Partykeller. Das mag auch daran liegen, dass Anderson vor Jahren die damals nicht mehr existierende Band mit lauter neuen, aber nicht jungen Musikern wiederbelebte. Enttäuschte Erwartungen also tragen zur Formung der Psyche bei. Ein unmusikalisches Beispiel dafür ist die Ampelkoalition, von der vor ein paar Jahren vielleicht nicht 87 Prozent erwartet hatten, dass sie einigermaÃen funktionieren würde, aber doch eine Mehrheit glaubte, dass sie allemal besser sei als die Mehltau-Regierung zuvor. Im Laufe der Monate und Jahre schaffte es dann diese Koalition, so viele Erwartungen zu enttäuschen, dass man jetzt praktisch nichts mehr von ihr erwartet. Andererseits: Welche Erwartungen setzt man auf den nächsten Kanzler? (Dass es eine Kanzlerin wird, erwartet wohl nicht einmal Alice Weidel.) Von Friedrich Merz erwarten selbst viele Leute in der Union so wenig, dass Markus Söder dauernd sagen muss, man werde an einem Strang ziehen, obwohl man bei Söder nie weiÃ, woran jenes Ende des Strangs, an dem er gerade nicht zieht, geknotet ist. Robert Habeck würde zwar gerne mal Kanzler werden, erwartet es realistischerweise aber nicht. Olaf Scholz wiederum erwartet eine Wahlniederlage, sagt es aber nicht, weil es eine blöde Ausgangsposition ist, wenn ein Kanzlerkandidat sagen würde, dass er nicht gewinnen kann. Scholz ist ein Siegertyp. Nicht lachen. Die SPD mit ihrem neuen Generalsekretär erwartet, dass sie gegen die Union mobilisieren kann, indem sie immer von der Merz-CDU spricht. Das ist problematisch, weil dem mit dem Etikett Esken-SPD hinreichend zu begegnen wäre. Wenige Erwartungen weckt auch die Aussicht, dass der Merz-CDU trotz der Söder-CSU gar nichts anderes übrig bleibt, als mindestens mit der Pistorius-SPD zu koalieren, es sei denn die Miersch-Mützenich-SPD tritt 2025 vehement dafür ein, dass es für die SPD Zeit sei, sich in der Opposition zu erneuern. Das hat die SPD seit 2005 immer wieder versucht, um dann aber doch immer wieder mit der CDU zu koalieren, mit Ausnahme jener vier Jahre, in denen die Westerwelle-FDP der Lindner-FDP erfolgreich vormachte, wie man sich in der Regierung aus dem Bundestag hinausregiert. Man kann jedoch mit Fug und Recht erwarten, dass Christian Lindner nächstes Jahr auch von selbst und ohne Vorbilder das Sich-aus-dem-Bundestag-Hinausregieren gut hinkriegt. Die Erwartung jedenfalls, dass Merz einer gut funktionierenden, in wichtigen Fragen einigen Reformregierungskoalition vorstehen wird, ist ungefähr so realistisch, wie von Bob Dylan zu erwarten, dass er in einem Konzert âLocomotive Breathâ von Jethro Tull spielt. In einem Dylan-Konzert war ich dieser Tage auch. Er hat mehr Haare als Ian Anderson, springt aber weniger auf der Bühne herum. Dylan versteht es, seine eigenen Songs immer wieder so zu interpretieren, dass man den Eindruck hat, bei dem einen oder anderen Song könne es sich um etwas Neues handeln. Wäre Friedrich Merz ein Songwriter, hätte man diesen Eindruck wohl nicht. Aus alledem kann man lernen, dass man keine zu hohen Erwartungen hegen sollte. Das Problem dabei ist nur, das man oft erst hinterher weiÃ, welche Erwartungen zu hoch waren.
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| | | | | | | | | | âIch habe mein Leben anders gestaltet als Herr Scholzâ | | Friedrich Merz, der Kanzlerkandidat der Union, darüber, warum er sich für geeigneter hält als den amtierenden Kanzler, was er als zentrale Ursache der gegenwärtigen Wirtschaftsmisere in Deutschland sieht â und wie er sie überwinden will. | | | |
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