Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
szmtag
Sollte der Newsletter nicht korrekt angezeigt werden, klicken Sie bitte hier
3. August 2021
Guten Tag,
Menschen, die viel schreiben, schreiben manchmal nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst ab, bewusst oder unbewusst. Nein, keine Sorge, dies wird nicht wieder ein Aufsatz über Frau Baerbock und Herrn Laschet, der neulich dafür um Verzeihung gebeten hat, dass er in einem vor zwölf Jahren erschienenen Buch, das mutmaßlich nicht viel mehr als zwölf Menschen gelesen haben, eine Textstelle nicht hinreichend als aus fremder Quelle geschöpft identifiziert hat. Allmählich erinnert die Durchstöberung weitgehend irrelevanter Texte von irgendwie prominenten Leuten wirklich an die schlechten Tage der Heiligen Inquisition, nur dass die Ertappten heute nicht gefoltert, sondern lediglich auf dem Twitter-Scheiterhaufen verbrannt werden.

Aber wie gesagt, diesmal fast nichts über Politiker (m/w/d), auch weil sich sonst die Engagierten unter der Leserschaft dieser weitgehend irrelevanten Kolumne wieder darüber aufregen, wenn, je nach Neigung des oder der Sichaufregenden, Scholz, Laschet, Söder, Baerbock, Lindner etc. „geprügelt“ werden, wie jüngst ein Leser erbost schrieb, als ich ein paar ironische Sätze über Olaf Scholz ausbreitete. Nun habe ich noch nie jemanden geprügelt, und ich bemühe mich stets, meiner Skepsis vielleicht nicht ausgewogen, aber dennoch schön verteilt auf Menschen aus (fast) allen Parteien Ausdruck zu geben. (Mir wäre es ohnehin am liebsten, ein 43-jähriger Kurt Schumacher würde mit einer ähnlich alten Judi Dench eine Doppelspitze fürs Kanzleramt bilden, erst er zwei Jahre, dann sie zwei Jahre.)

Also greife ich den aus textdramaturgischen Gründen gewählten Gedanken von jenen Menschen, die sich selbst plagiieren, wieder auf. In meinem journalistischen Leben habe ich ein paar Kollegen (die, an die ich gerade denke, sind alles Männer) kennengelernt, die gerne mal die eine oder andere Idee sowie die zugehörigen Formulierungen über die Jahre mehrmals in Reportagen, Kommentaren oder Analysen auftauchen ließen. Es ist einerseits nicht richtig verwerflich, wenn man von sich selbst abschreibt. Allerdings sollte man es nicht so häufig tun, dass es anderen auffällt, dem Schreibenden selbst aber nicht, weil er seinen Gedanken am Dienstag für so gut und originell hält, dass er nicht merkt, dass er diesen Gedanken auch schon am Mittwoch vor drei Wochen und am Samstag vor 14 Monaten gehabt und niedergeschrieben hat. Damit sind nicht immer wieder auftauchende Marotten sprachlicher Art gemeint, wie etwa, um nicht andere Leute bloßzustellen, meine eigene Marotte historischer Analogien. Ich verwende auch immer wieder, wenn meine Gegenleserinnen nicht genau aufpassen, das Füllwort „ja“ (wie in „es ist ja allgemein bekannt“ oder „von Söder weiß man ja“).

Aber beim Vonsichselbstabschreiben, was auch ein sich selbst Plagiieren beim Reden sein kann, geht es nicht um solche Dinge, sondern auch darum, dass durch die mehr oder weniger variierte, häufig vorkommende Verwendung eigener Gedanken und Begriffe beim Leser oder bei der Zuhörerin der Eindruck entstehen kann, den Dings müsse man jetzt aber nicht mehr unbedingt noch einmal zu diesem oder jenem Problem lesen oder hören, weil man ohnehin wisse, was der Dings dazu zu sagen habe, und zwar schon seit zwölf Jahren. Das ist natürlich nicht nur für Journalisten ein Problem, sondern auch für Spitzenkandidatinnen, Politiker, Firmenchefs, Personalreferentinnen oder Betriebsräte. Wie oft hat man zum Beispiel auf irgendwelchen Firmenversammlungen, Konferenzen oder in Workshops die 29. Variante des Motivationsgeschwätzes von Abteilungsleiter Müller gehört oder das zähnereiche Lächeln der Firmenkulturbeauftragten Maier gesehen, während sie von Maßnahmen, Rahmenbedingungen und konzernweiter Lernkultur laberte. Man darf, eine sehr wichtige Regel für öffentliches Schreiben und Sprechen, die Menschen nicht langweilen. Der Unterschied zwischen pädagogisch notwendiger Repetition und selbstverliebter Wiederholung ist vielen oft nicht bewusst.

Und damit komme ich endlich zu dem von Anfang an intendierten Selbstzitat. Vor fast 13 Jahren starb ein mir intellektuell lieber Kollege, Claus Heinrich Meyer, ein notorischer Streiflichtverfasser und Kulturskeptiker. Für seinen 75. Geburtstag hatte er eine Verbotsliste mit Begriffen verfasst, die niemand über ihn sagen sollte, und da hieß es zum Beispiel: „No Urgestein. No Querdenker. No Moralist.“ Meyer, und jetzt kommt das Selbstzitat aus meinem Nachruf, den ich 2008 auf ihn schrieb, „focht als Mensch und Autor einen hinhaltenden, aber ausdauernden Rückzugskampf gegen die Versaubeutelung sowie die Verschluderung der Sprache und des Denkens. Jeder sitzfleischbehaftete Jubilar wird heute ‚Urgestein‘ genannt, jeder Nörgler gilt als ‚Querdenker‘. Rigoros äußerte sich Meyer auch über jene, die unablässig vom ‚Kult‘, der ‚Ikone‘ oder der ‚Realsatire‘ schwafeln“.

Manches hat sich seit damals verändert, anderes wieder nicht. Der Begriff „Querdenker“ war zwar vor einem Dutzend Jahren auch nicht originell, aber dennoch eher positiv besetzt. Heute ist das anders, was man zum Beispiel daran sieht, dass sich Söders Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger nicht als Querdenker bezeichnen lassen will, obwohl es einem schwerfällt, im Zusammenhang mit Aiwanger passende Begriffe aus dem Wortfeld „denken“ zu finden, außer vielleicht „bedenklich“. Aber ich wollte ja (sic!) diesmal nicht über Politiker schreiben.

Meyer und seine Verbotsliste fielen mir deswegen ein, weil in den letzten Wochen etliche Leserinnen und Leser mich in Reaktionen auf den einen oder anderen Text von mir als „SZ-Urgestein“ bezeichnet hatten. Mich hat es, auch wenn dies wohl positiv gemeint war, geradezu geschaudert, nicht nur, weil in einer bald 76 Jahre alten Zeitung das nichtexistierende Urgestein aus den Trümmern des im Krieg zerstörten ehemaligen Verlagsgebäudes in der Sendlinger Straße bestehen würde. Übrigens zog 2012 in dieses Gebäude, nachdem es die Verlagsgewaltigen Jahre vorher aus ökonomischen Motiven, man könnte auch sagen: aus reiner Gier, verkauft hatten, ein sich kalifornisch gebender Klamottenladen, der nur ein paar Jahre lang hip und in der Fußgängerzone profitabel war, jetzt aber nicht mehr im ehemaligen SZ-Urgestein-Gebäude ist. Nun soll wohl eine Art Lifestyle-Möbelladen in das alte SZ-Gebäude kommen. Ich bin relativ sicher, dass auch der von Meyers Geist vertrieben werden wird. No Kommerz.

Wenn ich also in diesem Sommer, in dem es dauernd regnet, zumindest da, wo ich gerade bin, eine dringende Bitte äußern darf: No Urgestein. Urgestein schreibt nicht, sondern liegt stumpf und faul im Gebirge oder sonst wo herum. Nicht einmal die Geologie spricht mehr von Urgestein, weil es in Wirklichkeit zum Beispiel um orogenetisch frühe Gesteine … aber das können Sie selbst bei Wikipedia nachlesen. Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Sommer. Nächste Woche meißle ich noch einmal einen Deutschen Alltag aus Granit; danach ist für ein paar Wochen Sommerpause.  

Kurt Kister
Aus Ihrer SZ
Szenen einer Ehe
In Sachen Corona waren sich Markus Söder und Hubert Aiwanger selten einig. Aber was der Freie-Wähler-Chef und Vize-Ministerpräsident zur Impfung sagt, gefährdet die Koalition in Bayern.
Zum Artikel
Haben Sie Lob oder Kritik? 
Schreiben Sie uns unter deutscher-alltag@sz.de

Sie möchten unseren Newsletter weiterleiten und empfehlen? Hier geht es zur Anmeldung!

SZ-Newsletter 
Gesundheit!
Jeden Dienstag hilft Ihnen der Â»Gesundheit!«-Newsletter des SZ-Magazins, sich besser zu fühlen. Mit kenntnisreichen Recherchen
aus Medizin und Wissenschaft, guten Tipps aus der Welt des Sports und der Ernährung sowie unterhaltsamen Ideen, um gesund und glücklich durch den Alltag zu kommen.
Kostenlos anmelden
Zur Startseite von SZ.de

Zur Übersichtsseite der SZ-Newsletter
Ihre Newsletter verwalten

Entdecken Sie unsere Apps:

Folgen Sie uns hier:



Impressum: Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München
Tel.: +49 89 2183-0, Fax: +49 89 2183 9777
Registergericht: AG München HRB 73315
Ust-Ident-Nr.: DE 811158310
Geschäftsführer: Stefan Hilscher, Dr. Karl Ulrich
Copyright © Süddeutsche Zeitung GmbH / Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH.
Regeln zum Copyright
Sie erhalten den Newsletter an die E-Mail-Adresse newsletter@newslettercollector.com.
Wenn Sie den „Deutscher Alltag“-Newsletter nicht mehr erhalten möchten, können Sie sich hier abmelden.
Datenschutz | Kontakt