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Liebe/r Leser/in,

fragen Sie sich auch, warum wir uns seit einigen Wochen so wohlfühlen? Als seien Kummer und Sorgen von uns genommen. Sie denken, der Frühling bringe uns diese Heiterkeit? Ich bitte Sie. Wir sind erwachsene Menschen. Der Frühling bringt Starkregen, Allergien und Mückenschwärme. Nein, unser Gefühl der Freiheit und Unbekümmertheit hat einen sehr rationalen Grund: Anfang Mai war die kalabrische Mafia das Ziel eines europaweiten Polizeieinsatzes. Tausende Fahnder schlugen zeitgleich zu – und nahmen bei ihren Razzien 132 Tatverdächtige fest. Das bedeutet: 132 mutmaßliche Verbrecher sind weg. Weg aus den Büros, den Kneipen und Geschäften. Weg von den Straßen. Weg aus unserer Nähe. Kein Wunder, dass wir uns so wohlfühlen. Genießen wir diese Tage. Sie werden vergehen. Die Erfahrung lehrt: Die ach so heilsame Lücke, die durch das Verschwinden der 132 kalabrischen Gauner entstand, wird schon bald wieder gefüllt. Mit Ersatz- und Nachrück-Mafiosi. Und, leider, auch mit etlichen der eingefangenen Verdächtigen – mit Comeback-Mafiosi also. Dann ist alles wieder beim Alten, und wir gehen wieder missmutig und sorgenvoll durch unseren Alltag.

Sie wollen wissen, was die Mafia so zäh und widerstandsfähig macht? Ich sage es Ihnen: Die Mafia ist ein Clan. Ein Clan ist kein Verein, kein Team oder eine Firma. Ein Clan ist eine Lebensform. Sie mag antiquiert wirken. Eine Lebensform aus der Mottenkiste der Evolution. Nur klebt auf dieser Mottenkiste das Schild: extrem effizient, extrem gefährlich. Wissen Sie, welche Biester in der ozeanischen Fress-Hierarchie ganz oben stehen? Es sind nicht Haie. Es sind Orcas. Orcas sind die perfekten Jäger. Weil sie im Clan leben und sterben lassen.

Egal ob bei den Killerwalen oder bei den Italo-Gangstern: Der Clan fordert von seinen Mitgliedern keinerlei Qualifikation. Sie müssen weder schlau noch erfolgreich sein. Zum Berliner Remmo-Clan etwa gehören jene Cracks, die das Grüne Gewölbe in Dresden plünderten – und sich dabei so raffiniert anstellten, dass sie quasi schon vor der Tat unter Verdacht standen. Doch dass sie geschnappt wurden, schadet ihnen nicht. Sie verschwinden im Gefängnis, kommen nach ein paar Monaten wieder raus – und werden im Clan wegen ihrer Verlässlichkeit und Treue geschätzt. Was im Clan zählt, ist nicht die Größe der Beute. Es zählt die gemeinsame Beute. Loyalität zählt, unbedingte Loyalität.

Die lebt gerade Gerhard Schröder vor. Der prominenteste (und wohl auch traurigste) Deutsche unter den Mitglieder des Putin-Clans nimmt alles in Kauf, nur damit seine Loyalität mit dem Paten im Kreml nicht in Zweifel gerät. Dass er und seine Gemahlin Ansehen und Auskommen verlieren, spielt keine Rolle. Weil Schröder als ehemaliger Kanzler, als berühmter Genosse, als verehrter Deutscher keine Rolle mehr spielt. Nur noch als Mitglied des Clans. Schröder ist der Bushido der Politik. Wie der Rapper sich einst mit Haut und Haaren dem Abou-Chaker-Clan verschrieb, so verschrieb sich Schröder dem Putin-Clan. Bushido schaffte den Ausstieg, bei Schröder ist das nicht zu erwarten.

Ob Clans immer auf der dunklen Seite der Macht sind? Ach was. Die Clans sind die Guten. Sagen zumindest Mitglieder der Clans. Weil sie so gut sind, breiten sie sich ja auch aus. Nur weil ab und an ein Mitglied in Schwierigkeiten gerät, heißt das nicht, dass der Clan verliert. Die Cosa Nostra gewinnt immer. Auch die Cosa Nostra der Guten. Der Wärmepumpen-Clan etwa wird den zeitweiligen Ausfall eines Mitglieds im Wirtschaftsministerium sicher verkraften. Und Patrick Graichen wird sich wohl schon bald wieder an anderer Stelle für die gute Sache einsetzen. Für den Clan. Habeck dagegen kann auf keinerlei Loyalität in seinem Haus hoffen. Es heißt, er sei so ziemlich der Einzige im Ministerium, der nicht mit irgendjemand verschwägert ist.

Ein Wort noch, eine Klarstellung, zum berühmtesten Clan der Deutschen, dem FC-Bayern-Clan. Der ist nämlich gar kein Clan. Trotz „Mia san mia“ und dem Paten vom Tegernsee: Bei den Münchner Kickern zählt nicht Loyalität, sondern Erfolg. Erwartet wird keine gemeinsame Beute. Erwartet wird eine große Beute. Bleibt sie aus, werden die Versager gesucht, gefunden und abgestraft. Das ist der Grund, warum Oliver Kahn gerade so missmutig und sorgenvoll aussieht.

Ihnen wünsche ich einen Wochenstart ohne jede Kümmernisse.        

Herzlich grüßt

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Markus Krischer,
stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin

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