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Liebe/r Leser/in,

zu den Lieblingsanekdoten von Olaf Scholz gehört derzeit diese: „Ich habe schon im Dezember vergangenen Jahres den Wirtschaftsminister und meine ökonomischen Berater im Kanzleramt gefragt: Was passiert, wenn z. B. die Gaslieferungen aus Russland plötzlich ausbleiben?“ Respekt, das zeugt von Weitsicht, denn damals glaubte niemand in Berlin (ausgenommen Botschafter Melnyk) an einen Überfall Russlands auf die Ukraine mit den bekannten Folgen für den Energiemarkt.

Vor Beginn der Klausur seines Kabinetts diese Woche in Meseberg gab Scholz diese Anekdote erneut zum Besten, baute sie aber zum satten Eigenlob aus: „Weil wir so früh angefangen haben, haben wir sehr schnell und in großem Tempo die notwendigen Entscheidungen getroffen, damit wir gut durch diesen Winter und den nächsten Winter kommen können.“ In bemerkenswertem Gegensatz dazu standen die Ergebnisse von Meseberg: Olaf Scholz traute sich nach der Klausur nicht einmal, einen Zeitpunkt dafür zu benennen, wann das „wuchtige Paket“ zur Entlastung der Bürger von den Rekord-Energiepreisen denselben zur Kenntnis gebracht werden soll. Beim Tempo ist da noch Luft nach oben. Diebisch gefreut hat den Kanzler, dass aus der Klausur so wenig an die Öffentlichkeit gedrungen ist. Das mache ihn „professionell stolz“, gab er den Journalisten einen mit.

Schade auch, dass der Kanzler seinen Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck im Dezember nicht darüber aufgeklärt hat, dass ein Ausbleiben des russischen Erdgases unabwendbar zu steigenden Gaspreisen und in der Folge zu steigenden Strompreisen am Spotmarkt führen wird. Denn dann hätte Habeck vielleicht schon im März oder doch im April, auf jeden Fall aber mit mehr Nachdruck damit begonnen, die Verstromung von Gas zu beenden und es durch zusätzliche Kohlekraftwerke zu ersetzen. Und dann würde die Regierung nicht nur „in sagenhaftem Tempo“ (Scholz) Terminals für Flüssiggas an der Nordseeküste errichten, sondern dann hätte Habeck vielleicht längst grünes Licht für die Weiternutzung der drei sich noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus gegeben.

In der tristen Regierungsrealität ist es leider so, dass der Wirtschaftsminister erst im Juni den Weg frei gemacht hat für die Zuschaltung zusätzlicher Kohlekraftwerke, dass der Stresstest für den Strommarkt, der den Grünen einen Ausweg aus dem Kernkraft-Dilemma weisen soll, noch immer läuft und der Minister die Gaskunden mit einer Umlage traktiert, die diese Energie weiter verteuert. Wenn dem Kanzler und damit seiner Regierung seit Dezember klar war, dass man sich auf ein Ausbleiben des russischen Erdgases einstellen muss, dann hätte doch alles geschehen müssen, um möglichst schnell und möglichst viel Ersatzenergie zu beschaffen. Doch so kam es nicht, und deshalb verstromen wir derzeit mehr Gas als im vergangenen Sommer.

Bei Habeck klingt das Selbstlob vom frühen Anfang deutlich zurückhaltender: Man könne deshalb, so der Minister nach der Klausur, „gerüstet in den Winter gehen“. Habe man diesen erst einmal „überstanden“, werde man die Zukunft selbstbewusst gestalten. Ich frage mich, ob die Ampel tatsächlich glaubt, mit solchen Reden die Bürger beruhigen zu können, oder ob es sich um den Versuch der Selbstberuhigung durch Autosuggestion handelt.

Wenn Deutschland für den ersten Winter mit erheblich weniger oder gar keinem Gas aus Russland tatsächlich gut gerüstet wäre, dann könnte sich die Politik ihre guten Ratschläge z. B. für ein Umsteigen von der Dusche auf Waschlappen-Reinigung sparen. Dann wäre es verfrüht, Beleuchtung und Lichtwerbung in den Städten auf ein Minimum zu reduzieren und „Frieren für den Frieden“ zu propagieren.

Es ist ohnehin völlig unangemessen, wenn man bedenkt, dass in den kommenden Monaten und Jahren das Wirtschafts- und Wohlstandsmodell unseres Landes auf dem Spiel steht. Da hilft nur eine Rückbesinnung auf die Gesetze der Marktwirtschaft, die schon von der Großen Koalition unter Angela Merkel sträflich missachtet wurden. Für Gas und Strom heißt das: Nicht staatliche Eingriffe in die Preisfindung führen zu nachhaltig niedrigeren Preisen, sondern ausschließlich die Erhöhung des Angebots an Energie.

Und da die Energiepreise zugleich ein wesentlicher Treiber der Inflation sind, spricht alles dafür, das Energieangebot zu erhöhen. Schnell geht das nur über heimische Energieträger wie Kohle und auch Atom. Zusätzliches Erdgas, zum Beispiel aus Katar, bekommen wir nur gegen langfristige Lieferverträge (mindestens 20 Jahre). Das aber würde die Ampelziele für den Verzicht auf fossile Brennstoffe sprengen.

Wenig ist in der deutschen Politik derzeit so gewiss wie die Selbstgewissheit von Olaf Scholz, der richtige Kanzler zur richtigen Zeit zu sein. Das erinnert ein wenig an Oskar Lafontaine, der 1995 seiner damaligen Partei, der SPD, zugerufen hatte: „Wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern.“ Vielleicht klappt das ja wieder.

mit vielen Grüßen,

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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