Ausgabe vom 23.09.2019

Warum der Handelsstreit ein Börsen-Dauerbrenner bleibt

Warum der Handelsstreit ein Börsen-Dauerbrenner bleibt
von Torsten Ewert

Sehr verehrte Leserinnen und Leser,

als erfahrener Börsianer registriert man die Reaktionen der Märkte auf den Handelsstreit inzwischen mit einiger Verwunderung, vor allem weil diese Reaktionen einem typischen Muster zu widersprechen scheinen.

Wie du mir, so ich dir

Dabei sind diese Reaktionen eigentlich ziemlich vorhersehbar. So schockte Ende August eine weitere Verschärfung des Handelsstreits die Börsianer, als China Trumps damalige Zollerhöhung mit gleicher Münze zurückzahlte und Trump daraufhin nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir“ umgehend zurückschlug.

Dann beruhigten sich die Gemüter wieder etwas – auch an der Börse – so dass weitere Verluste zunächst ausblieben. Schließlich kam die Nachricht, dass China an weiteren Gesprächen mit den USA interessiert sei, was für Erleichterung bei den Anlegern und damit für steigende Kurse sorgte. So weit, so berechenbar.

Einen ähnlichen Ablauf sahen wir auch in den vergangenen Tagen: So wurden kürzlich – wieder einmal – neue Gespräche zwischen den USA und China angekündigt, diesmal sogar recht konkret (siehe Börse-Intern vom 17.09.2019). Es wurde sogar ein Besuchsprogramm für die chinesische Delegation abseits anstrengender Gesprächsrunden geplant. Den Börsen gab diese Meldung einmal mehr Rückenwind.

Die nächste Enttäuschung folgte „programmgemäß“

Am Freitag folgte dann die Enttäuschung: Die Chinesen werden zwar zu den Gesprächen anreisen, sagten aber das Besuchsprogramm ab. Prompt reagierten die Börsen, und zwar merklich, wie der folgende Intraday-Chart zeigt:

Intraday-Chart S&P 500

Zugegeben, die Darstellung überzeichnet diesen „Einbruch“, der mit -0,8 % noch moderat ist. Aber die folgende Erholung blieb bisher schwach und der Kurs scheiterte an der runden 3.000er Marke und gab zum Schluss nochmals nach.

Nun mag am Freitag noch der Verfallstag eine Rolle gespielt haben, so dass wir erst in den nächsten Tagen sehen werden, was dieser Rücksetzer wirklich wert ist. Allerdings beobachten wir dieses Muster nun schon seit Monaten: Die USA und China überziehen sich einerseits gegenseitig mit immer neuen Handelsverschärfungen, signalisieren aber andererseits zwischendurch immer wieder Verhandlungsbereitschaft. Doch zu diesen Verhandlungen kommt es nie so recht, so dass die Lage unter dem Strich stets weiter eskaliert.

Durchschauen die Investoren dieses „Spiel“ nicht?

Dies scheint eine Art „Spiel“ zu sein, das sowohl US-Präsident Trump als auch die chinesische Führung mit gewisser Hingabe und Hartnäckigkeit spielen. Aus meiner Sicht ist das längst berechenbar, denn meinen Lesern von Aktien-Perlen und Geldanlage-Brief schrieb ich schon im August, dass die nächste Enttäuschung nach jeder hoffnungsvollen Meldung in Sachen Handelsstreit nicht lange auf sich warten lassen wird. So war es damals und so ist es auch diesmal wieder.

Daher meine eingangs geäußerte Verwunderung: Denn die Investoren reagieren auf jede Meldung wundersamerweise jedes Mal aufs Neue absolut vorhersehbar – Entspannungssignale werden von Kursgewinnen begleitet, (verbale oder tatsächliche) Verschärfungen von Kursverlusten. Damit folgen die Anleger wie in Trance bzw. wie die Lemminge brav den eher taktisch motivierten Spielchen der Kontrahenten und lassen sich quasi am Nasenring durch die Manege führen. Durchschauen sie denn dieses Spiel nicht?

Welches typische Muster außer Kraft zu sein scheint

Wundersam daran ist vor allem, dass damit ein typisches Muster außer Kraft gesetzt zu sein scheint: der Gewöhnungseffekt. Bekanntlich haken die Märkte ein Thema nach einer Weile auch dann ab, wenn das jeweilige Problem ungelöst bleibt. Selbst eine Verschärfung in einem bestimmten Rahmen verursacht dann kaum noch Kursausschläge. Prominente Beispiele waren der Haushaltstreit in den USA ab 2011 und natürlich die Euroschuldenkrise ab 2010.

Der Handelsstreit ist hingegen für Börsenkommentatoren ein dankbares Thema, denn auch nach mehr als eineinhalb Jahren zucken die Kurse noch bei der X-ten Meldung dazu – und liefern den Medien damit die sehnsüchtig gesuchten „Gründe“ für ihre Börsenkommentare.

Dieses Mal ist alles anders – nur was?

Womit sich natürlich die Frage stellt, was dieses Mal anders ist, so dass sich die Anleger bei diesem Thema nicht beruhigen können. Über die Gründe dafür kann man sicherlich trefflich spekulieren. Einer davon dürfte aber sein, dass der Handelsstreit unmittelbare Auswirkungen auf Wirtschaft und Unternehmen und damit auf die Börsen hat (siehe z.B. Börse-Intern vom 16.08.2019 und 22.08.2019) – und das nicht nur für die Volkswirtschaften der beiden Streithähne selbst, sondern auch für andere Länder, wie wir nicht zuletzt in Deutschland sehen.

Trotz der bereits sichtbaren Bremsspuren bleiben die Auswirkungen bisher noch moderat. Aber das kann sich ändern, wenn sich die Eskalationsspirale weiterdreht. Ökonomen rechnen sogar damit, dass es zu einer Art „Kipppunkt“ kommen kann, an dem die negativen Folgen selbstverstärkend werden, z.B. durch Insolvenzen.

Erste mögliche Anzeichen dafür gibt es in der deutschen Automobilzuliefererindustrie, wo bereits kleinere Firmen in die Pleite schlittern und durch die ihre größeren Kunden – unter anderen auch die Autohersteller selbst – zum Teil gestützt werden, damit deren Produktion gesichert ist. Solche Unterstützungsmaßnahmen haben aber natürlich Grenzen, wenn größere Unternehmen betroffen sind. Auch diese Gefahren könnten ein Grund sein, warum die Nervosität in Sachen Handelsstreit bei den Börsianern anhält.

Ein Chicken Game mit der Weltwirtschaft

Ein dritter Grund dürfte unmittelbar mit der schon oben angesprochenen Erfahrung zusammenhängen, dass es bisher noch zu überhaupt keiner substanziellen Entspannung im Handelsstreit gekommen ist. Bestenfalls war von „aussetzen“, „verschieben“ und so weiter die Rede, aber ernsthafte Verhandlungen finden nicht mehr statt. (Ob sich letzteres nach den jüngsten Ankündigungen ändert, bleibt abzuwarten.)

Alle Entspannungssignale beider Seite waren also nur taktische Finessen in diesem Chicken Game. Öffentlichkeit und Anleger haben sich zudem darauf eingestellt, dass in diesem Konflikt keine Seite zum Einlenken bereit ist, da beide dies als Schwäche und Gesichtsverlust ansehen. Diese beiderseitige Uneinsichtigkeit haben die Investoren sicherlich ebenfalls im Hinterkopf, wenn sie neue Nachrichten zum Handelsstreit erreichen.

Mit Kalkül wider alle ökonomische Vernunft

Ökonomische Vernunftgründe scheinen zudem beide Seiten wenig zu interessieren: Die US-Regierung verlässt sich vor allem auf die Fed, die für sie die Kastanien aus dem Feuer holen soll, während China auf sein zentralistisches Steuerungssystem vertraut, das dem Land schon erfolgreich geholfen hat, die Finanzkrise weitgehend schadlos zu überstehen.

Auch bei diesen Kalkülen dürften die Anleger Bauchschmerzen bekommen, denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass diese vermeintlichen „Rettungsringe“ versagen: Die Fed ist schon wieder im Zinssenkungsmodus und bei einer erneuten Krise könnte sie das Schicksal der EZB erleiden, die schon seit Jahren im Nullzinsmodus ist, weil ihre Maßnahmen nicht ausreichen, die Konjunktur nachhaltig anzukurbeln, und die Unterstützung durch die Politik fehlt.

Und ob Chinas Potenzial ausreicht, eine weitere Krise zu überstehen, kann auch niemand seriös einschätzen – immerhin schweben inzwischen die Schuldenberge als Damoklesschwert über Finanzsektor und Wirtschaft, die in der Finanzkrise zur Krisenbekämpfung angehäuft wurden.

Der Handelsstreit als Crash-Auslöser?

Im schlimmsten Fall könnte also der Handelsstreit sogar einen neuen Börsen-Crash auslösen. Aber auch das ist weder eine konkrete Gefahr noch ein seriöses Szenario – sondern nur eine von mehreren vagen Möglichkeiten in einem äußerst undurchsichtigen „Spiel“.

Aus Börsianersicht ist also der Handelsstreit eine ständige potenzielle Bedrohung, die sich vorerst weiter vergrößert, und bei der bisher keine echte Entspannung absehbar ist. Aber warum stehen die Kurse dann nicht schon viel tiefer?

Warum trotzdem noch eine Rally möglich ist

Der Grund dafür ist vermutlich dann doch wieder der Gewöhnungseffekt, der in diesem Fall wohl extrem langsam wirkt. Hinzu kommt, dass ein Lebenselixier der Märkte die Hoffnung ist, z.B. dass es doch noch zu einer Lösung bzw. Entspannung oder wenigstens einem neuen Status Quo kommt, dass weiter sinkende Zinsen die Märkte doch irgendwie antreiben oder dass es im kommenden Jahr in den USA die übliche Rally im Präsidentschaftswahljahr gibt…

Solange diese Hoffnungen die Kurse noch tragen, ist sogar weiterhin ein Ausbruch der US-Indizes auf neue Hochs und danach eine Fortsetzung der Rally möglich. Wie weit diese dann allerdings noch geht, ist eine andere Frage, die wir uns stellen werden, wenn es so weit ist.

Mit besten Grüßen

Ihr Torsten Ewert

 

PS: Apropos Rally: Mein Geldanlage-Brief hat bereits Ende August ein neues Allzeithoch erreicht - was die Aktienmärkte noch nicht geschafft haben. Aber selbst, wenn der Ausbruch von Dow und Co. ausbleibt, fahren wir weiterhin hohe Erträge ein, z.B. mit krisenfesten Dividendenaktien. Sie sollten also gleich überprüfen, ob Ihr Depot auch so wetterfest ist - am besten mit unserem kostenlosen 30-tägigen Probeabo.

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