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Liebe/r Leser/in,

es gibt Momente, in denen selbst vier Raketen als Feuerwerk durchgehen. Sogar tagsüber. Und mehr Raketen hatte ich vergangenen Samstag nicht – und es war schließlich der 4. Juli. Wir haben gerade gute Freunde aus New York als Corona-Flüchtlinge zu Besuch; sie mussten den Wahnsinn unmittelbar miterleben – wie im Central Park erst ein temporäres Lazarett, dann eine temporäre Leichenhalle errichtet wurde.

Seit nunmehr 243 Jahren feiert Amerika am Fourth of July den Independence Day. Für das kollektive Gedächtnis Amerikas und seine Selbstbestimmung ist dieser Tag wertvoller als Weihnachten – minus der Geschenke. Am Abend des 3. Juli hatte Präsident Trump vor den in Stein gehauenen Konterfeis George Washingtons, Thomas Jeffersons, Abraham Lincolns und Theodore Roosevelts am Mount Rushmore gesprochen. In der Kulisse von kolossalem Kitsch servierte Trump wieder einmal Zwietracht, Hass und Größenwahn – und erklärte kurzerhand halb Amerika zu „Linksfaschisten“. Wie offen rassistisch der 45. US-Präsident mittlerweile agiert, zeigte auch ein Video, in dem einer seiner Anhänger „White Power“ schreit, das Trump kurze Zeit später bei Twitter teilte. So weit habe der Präsident den Clip nicht gesehen, lautete die lächerliche Entschuldigung des White House.

Am Unabhängigkeitstag selbst verkündete der Präsident stolz, ein „gewaltiger Sieg“ gegen Covid-19 stehe bevor – der traurige Stand heute: 60.000 Neuinfizierte am Tag und drei Millionen Infizierte insgesamt. Wenn man da von gewaltig sprechen sollte, dann nur in Zusammenhängen wie gewaltige Katastrophe oder gewaltiges Politikversagen. Auch wenn die Pandemie nur wie ein Brandbeschleuniger für die vielen Probleme Amerikas wirken mag, so steht doch fest: Die Präsidentschaft Trumps markiert das Ende des amerikanischen Jahrhunderts.

Während die drei Kinder unserer Freunde sich sehr über Raketen, Burger und Maiskolben freuten, wurde ich zunehmend trauriger. Verglüht waren nicht nur die Funken der Raketen, sondern auf eine Art auch mein Amerika. Ich kann mich nicht über die desolate Lage unseres wichtigsten Verbündeten freuen, egal wie ich persönlich die „Politik“ dieses Mannes auch finden mag (mindestens so ungesund und falsch wie seine Gesichtsfarbe). Woran ich nie Zweifel hatte, war indes das Land und das Versprechen Amerikas. Ganz im Gegenteil. Als die Klassenkameraden einst von Paris und der großen Kulturnation Frankreichs schwärmten, gehörte mein Herz Amerika. Immer schon.

Mein American Dream waren Skateboarding und Hollywood, Cassius Clay und Warhol. Pop-Art und Apple! Hemingway, Steinbeck, Fitzgerald, Walt Disney. Natürlich existiert all das auch in Trumps Amerika weiter – und doch ist es nicht mehr mein Amerika, zumindest fühlt es sich gerade nicht mehr so an.

Der Mann, der im November gegen Trump als Kandidat der Demokraten antreten wird, heißt Joe Biden. Trump macht Obamas ehemaligen Vize gerne als „Sleepy Joe“ lächerlich, und ob Biden die kaputten Staaten von Amerika tatsächlich heilen kann, ist ebenso ungewiss wie die Frage, ob er Trump tatsächlich schlagen kann. Unser Autor Sebastian Moll ist für Sie in Bidens Heimatstaat Delaware gefahren, um herauszufinden, wie der Mann wirklich tickt, der dieser Tage gerne mit verspiegelter Aviator-Brille und schwarzer Atemmaske den Anti-Trump gibt. Seine Story finden Sie ab Seite 32.

Auch wenn mir Biden politisch näher scheint als der Amtsinhaber, hält sich meine Begeisterung arg in Grenzen. Zwar führt der Demokrat derzeit mit bemerkenswerten zehn Prozentpunkten Vorsprung, weil Trump selbst bei seiner treuesten Klientel – älteren weißen Männern der unteren Mittelschicht aus ländlichen Gegenden – pandemiebedingt an Zuspruch verliert. Wie wenig verlässlich Umfragen in diesen Zeiten allerdings sind, haben schon die US-Wahl 2016 und der Brexit ziemlich deutlich gemacht.

Mich stört weniger Bidens aktuelles Programm (lieber wenig richtig als viel falsch machen), sondern sein fortgeschrittenes Alter. Der Mann ist stolze 77 Jahre alt – und wird zwischen Wahltag und etwaigem Amtsantritt auch noch 78. Nicht falsch verstehen: Ich bin weder gerontophob, noch möchte ich irgendwem die Lebenserfahrung absprechen. Und natürlich kann man, siehe Adenauer, auch in hohem Alter noch zukunftsweisende Politik machen und gestalten. Aber das schnellste Medium in der Bonner Republik war das Telegramm; heute brennt die Welt auf Twitter. In Echtzeit. Ich wünsche mir, dass die Politiker noch da sind, um die Folgen des eigenen Handelns auch mitzuerleben – und dafür geradezustehen.

Würde Joe Biden im Amt bestätigt, wäre er am Ende seiner Präsidentschaft stolze 86. Wie das gut gehen soll, kann und will ich mir nicht einmal vorstellen. Wir sprechen hier schließlich nicht über den Posten als Frühstücksdirektor von Mar-a-Lago, sondern über den wichtigsten und härtesten Politikerjob der Welt.

Worauf ich hinauswill: Nie war die Hoffnung auf einen Segen für dieses großartige Land dringender als heute. God bless America.

Herzlich Ihr

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Jörg Rohleder
stellvertretender Chefredakteur FOCUS Magazin



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