Was an dieser Krise so besonders ist
Was an dieser Krise so besonders ist von Torsten EwertSehr verehrte Leserinnen und Leser, keine Frage – die aktuelle Krise ist einzigartig. Eine Pandemie mit einem äußerst ansteckenden und gefährlichen Virus, vor der Experten seit Jahren gewarnt haben, hält die Welt in Atem. Sie ist inzwischen zu einer beispiellosen Belastung geworden – nicht nur für die Gesundheitssysteme, sondern auch für die Gesellschaften insgesamt und damit die Volkswirtschaften. Aber auch für die Börsen ist diese Krise etwas Besonderes. Negativ-Rekorde am laufenden Band Je nach Index und Markt kann die Corona-Krise schon einige Superlative für sich verbuchen: der stärkste Crash seit X Jahren oder sogar der gesamten Kurshistorie, der schnellste und dramatischste Rückfall von einem Allzeithoch, aber auch der größte Tagesgewinn seit Jahrzehnten – all diese Rekorde (und wohl noch einige mehr) konnten die Statistiker in den vergangenen Wochen notieren. Die Einzigartigkeit dieser Krise wirft natürlich auch Probleme und Fragen auf. Zum Beispiel, wie lange sie noch dauert und wie schwer die Verwerfungen für Wirtschaft und Börsen werden. Auch bei den Konjunkturdaten und Frühindikatoren gab es neue (Negativ-)Rekorde zuhauf: die größten Einbrüche diverser wirtschaftlicher Stimmungsindikatoren, wie ifo-Geschäftsklima, ZEW-Konjunkturerwartungen oder der Einkaufsmanagerindizes, historisch einmalige Zuwächse bei den Arbeitslosenzahlen in den USA und anderen Ländern. Und auch die Ökonomen überschlagen sich mit pessimistischen Prognosen. Manche befürchten sogar eine neue Weltwirtschaftskrise. Ihr Vorteil als Marktbeobachter Nun bin ich kein Ökonom, sondern Marktbeobachter. Ich kann also die Prognosen der Volkswirte weder nachvollziehen noch eigene Werte dagegensetzen. Nach wie vor bin ich jedoch der Meinung, dass auch die Ökonomen nur begrenzt die Möglichkeit haben einzuschätzen, wie stark und schnell eine Erholung nach dieser wirtschaftlichen Vollbremsung werden könnte. Als Marktbeobachter kann ich jedoch vergleichen, wie sich die Börsen in den verschiedenen Krisen der vergangenen Jahrzehnte verhalten haben und ob es Unterschiede zur aktuellen Entwicklung gibt. Und siehe da, es gibt tatsächlich einen auffallenden Unterschied. Als Charttechniker suche ich stets nach Signalen oder Indizien, die möglichst frühzeitig eine Wende in die eine oder andere Richtung anzeigen. Es gibt inzwischen eine Vielzahl solcher Indikatoren, was ein ziemlich eindeutiges Zeichen dafür ist, dass all diese Indikatoren nie 100%-ig zuverlässig sind – warum sollte man sonst immer neue Indikatoren ausknobeln? Ein sehr zuverlässiger Indikator Ein Indikator ist aber seit Jahrzehnten sehr zuverlässig: die relative Stärke bzw. Schwäche des Technologiesektors gegenüber dem Gesamtmarkt. Und der NASDAQ 100 gilt bekanntlich als der Technologieindex par excellence! Und tatsächlich war es fast immer so, dass nach einem Crash oder einer Baisse eine (neue) Stärke des NASDAQ 100 gegenüber dem S&P 500 den Beginn der nächsten Hausse eingeläutet hat. Allerdings war der NASDAQ 100 zuvor während des Crashs oder Baisse auch auffallend schwächer als der S&P 500. Beides folgt einer gewissen Logik. Technologieunternehmen, wie im NASDAQ 100, gelten als riskant, weil ihr Geschäftsmodell noch nicht etabliert ist und ihre Umsätze und Gewinne häufig erst nach dem Durchbruch ihrer (neuen) Technologien oder Produkte in eine signifikante Größenordnung steigen – dann aber oft sehr rasant. Microsoft, Apple, Google, Amazon und viele andere sind bekannte Beispiele für solche Hightech-Überflieger an der Börse. Die Branchenrotation bei Technologiewerten Diese rosigen Zukunftsaussichten werden in guten (Börsen-)Zeiten ausgiebig eingepreist, so dass die Kurse der entsprechenden Aktien kräftig steigen. In wirtschaftlich schlechten Zeiten trüben sich die Aussichten dagegen ein – zum einen, weil das Geld der Investoren nicht mehr so locker sitzt, aber diese Unternehmen zunächst noch hohe Investitionen stemmen müssen, um ihren Durchbruch zu schaffen. Und zum anderen fliehen die Anleger bei fallenden Kursen „automatisch“ in defensive Werte und lassen Technologieaktien fallen wie heiße Kartoffeln. Wenn die Börsianer dagegen nach einer Baisse, einer Rezession oder einem Crash wieder eine Wende zum Besseren erwarten, fließt das Geld schnell wieder in diese Zukunftswerte, deren Kurse sich dann rascher erholen als der Gesamtmarkt. Welches Muster seit Jahrzehnten immer wieder auffällt Diese Muster kann man daher in allen großen Schwächeperioden der vergangenen Jahrzehnte sehr gut erkennen, wie der folgende Chartvergleich zeigt. (Quelle: MarketMaker) Ausgewählt habe ich den berühmt-berüchtigten Crash von 1987, die Rezession von 1990, die Finanzkrise 2007-2009 sowie die große Konsolidierung von 2015/16. Typischerweise hinkt der NASDAQ 100 (rote Kurven im jeweils oberen Chartteil) in Schwächeperioden auch über längere Phasen dem S&P 500 (blaue Kurven) hinterher, wie es 1987 und vor allem 1990 sehr ausgeprägt der Fall war. In den letzten beiden Beispielen war es jedoch so, dass der NASDAQ 100 in den Zwischenerholungen kurzzeitig wieder etwas Stärke zeigte. Aber es galt in jedem Fall: Immer, wenn die Märkte insgesamt fielen, wurde der Kurs des NASDAQ 100 stärker gedrückt. Das wird insbesondere durch die Relative-Stärke-Kurve in den unteren Chartteilen deutlich. Sie entsteht einfach durch Division des NASDAQ100-Kurses durch den S&P500-Kurs. Eine fallende Kurve zeigt dann an, dass der NASDAQ 100 im fraglichen Zeitraum schwächer ist als der S&P 500, eine steigende, dass er stärker läuft. Dieses Muster lässt sich auch in andere Schwächephasen der Märkte immer wieder beobachten. Das war natürlich auch während der Baisse von 2000 bis 2003 so, als der NASDAQ 100 nach der Technologieblase zur Jahrtausendwende um mehr als 83 % einbrach. In diesem Fall war die Technologieschwäche so offensichtlich, dass es keinen Chart als Beweis braucht… Dieses Mal ist es anders Die Beispiele mögen genügen, um das Besondere des aktuellen Crashs zu unterstreichen – man kann schon sagen: das Einmalige. Dazu der aktuelle Vergleich von NASDAQ 100 und S&P 500: (Quelle: MarketMaker) Hier steigt die Relative-Stärke-Kurve während des gesamten Crashs (siehe grüne Linie) und insbesondere in den letzten Tagen vor dem bisherigen Tief nahm diese Stärke noch zu! Dieses Verhalten ist äußerst ungewöhnlich und lässt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu. 3 mögliche Gründe für diese Stärke So könnten es ein Zeichen dafür sein, dass die Börsianer die Technologiewerte als (relative) Krisengewinner sehen – schließlich kann man die meist (computergesteuerten) Technologie leichter vom Home-Office aus oder zumindest dezentral betreiben als z.B. eine Auto- oder Chemieproduktion. Damit sind Technologiewerte auch bei massiven Einschränkungen, wie wir sie jetzt erleben, im Vorteil. Oder die Anleger betrachten die Technologiewerte als generelle Krisengewinner, z.B. die Biotech-Werte, die früher oder später einen oder mehrere Impfstoffe und Gegenmittel entwickeln werden. Diese versprechen angesichts der weltweiten Verbreitung des Virus natürlich ein grandioses Geschäft. Vielleicht erwarten aber die Investoren auch tatsächlich nur einen zeitweiligen Einbruch von Wirtschaft und Börse – und danach ein schnelle Erholung – so dass sie weiterhin im „Risk-On-Modus“ bleiben und an aussichtsreichen Technologiewerten weitgehend festhalten. Oder es ist ein Potpourri von diesen und/oder anderen Gründen. Worauf Sie jetzt achten müssen In jedem Fall bedeutet die Stärke der Technologiewerte, dass die Anleger trotz Pandemie und Crash an eine Zukunft glauben, denn neue Technologien sind stets eine Wette auf die Zukunft. Die Börsianer bleiben also optimistisch – und das deutet darauf hin, dass sie zumindest keine langanhaltende Wirtschaftskrise erwarten bzw. mit einer schnellen Überwindung der bevorstehenden Rezession rechnen. Natürlich kann sich diese Erwartung als genauso falsch herausstellen wie die anfängliche Ignoranz gegenüber den Auswirkungen der Pandemie. Aber mit der relativen Stärke des NASDAQ 100 (sowie gegebenenfalls anderen Branchenvergleichen) haben wir eine sehr gute Möglichkeit, frühzeitig zu erkennen, wenn sich die Meinung des Marktes doch noch ändern sollte. Mit besten Grüßen Ihr Torsten Ewert
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