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Liebe/r Leser/in,

wir leben ohne jede Frage in außergewöhnlichen Zeiten, haben uns die vergangenen drei Jahre schnell an radikale Veränderungen gewöhnt. Doch manches bleibt mir unverständlich, zum Beispiel die „Unabhängige Kommission Erdgas und Wärme“, die die Bundesregierung eingesetzt hat, um die Gaspreise für Privathaushalte und Wirtschaft zu deckeln und deren Ratschläge jetzt erwartet werden wie der Weihnachtsmann am 24. Dezember.

Sie besteht aus Spitzenvertretern der Wissenschaft, der Gewerkschaften und der Industrie. Das Wirtschafts- und Klimaministerium darf nur organisatorisch helfen, aber „keinerlei Einfluss auf die inhaltliche Arbeit der Kommission“ nehmen, wie das Ministerium von Robert Habeck selbst schreibt.

Wie bitte? Das Bundeswirtschaftsministerium hat 2187 Mitarbeiter, rund 2000 Mitarbeiter zählt das Bundesfinanzministerium, 750 sind es im Bundeskanzleramt – und dennoch braucht es eine „Unabhängige Kommission“ von Experten, um eine der wichtigsten politischen Entscheidungen dieser Regierung zu treffen? Da kann sie künftig ja auch eine bekannte Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft wie McKinsey mit der Aufstellung des Bundeshaushalts oder eine angloamerikanische Söldnertruppe mit der Reform der Bundeswehr betrauen – natürlich immer angereichert mit dem Rat von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Kirchen. Wenn du nicht mehr weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis – so heißt es in Konzernen oft, wenn verschiedene Interessen- und Machtpole auf­einandertreffen, sich lähmen und nichts entscheiden können. Genau das erleben wir gerade in Berlin.

Die Gaspreis-Kommission ist Ausdruck politischer Feigheit der Ampelkoalition vor dem Bürger sowie der Erkenntnis, dass SPD, Grüne und FDP sich auf so gut wie nichts – vom Schuldenmachen einmal abgesehen – verständigen können. Und deshalb musste
die Gaspreis-Kommission her, deren Ergebnisse schon deshalb ganz schnell Gesetz werden dürften, weil sonst eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe in Deutschland droht. Und da zählt jeder Tag! Denn die Rechnungen mit den Energiekostensteigerungen erreichen schon jetzt Bürger, Mittelstand und Industrie.

Doch wer verantwortet, was unverantwortlich ist: die Verzögerung von Energiepreissenkungen in einer Situation, in der Bürger und Betriebe von existenziellen Sorgen gequält werden? Und absurd ist es ja auch, dass die Ampel sich einen Doppel-Wumms ans Revers heftet, aber auch eine Woche später noch nicht sagen kann, wofür die 200 Milliarden Euro tatsächlich ausgegeben werden sollen. Allein auf die Zusicherung des Kanzlers, niemand müsse sich mehr Sorgen machen, mag man sich da nicht verlassen.

Eine weitere Absonderlichkeit dieser Tage: Die Ampel hat in Zusammenhang mit dem 200-Milliarden-Doppel-Wumms bei den Bürgern den Eindruck zu erwecken versucht, es gäbe zwei grundsätzlich unterschiedliche Schuldenarten: Die einen Schulden stehen im Bundeshaushalt und werden von der Schuldenbremse erfasst, während die anderen über den Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) gemacht werden und irgendwie nicht so schlimm sind. Udo Jürgens sang einst von „Liebe ohne Leiden“, doch Schulden ohne Tilgung gibt es nicht. Die „FAZ“ berichtete jüngst (Ausgabe 1. Oktober/Seite 19), dass die Kreditschulden aus dem WSF ab 2028 Tilgungsverpflichtungen von bis zu 18 Milliarden Euro pro Jahr nach sich ziehen könnten. Die wahren Kosten und nicht zuletzt die Verantwortlichkeiten werden auf diese Weise verschleiert, der Gedanke der Schuldenbremse wird ad absurdum geführt.

Das dritte große Fragezeichen ist für mich der von Minister Habeck und RWE vereinbarte Ausstieg aus der Braunkohleverstromung für 2030 und damit acht Jahre früher als bisher vereinbart. Dadurch, so Habeck, würden 280 Millionen Tonnen weniger im Rheinischen Braunkohlerevier gefördert. Und die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang jubiliert: „Die Einigung muss den Weg weisen für einen bundesweiten Kohleausstieg 2030.“

Ich aber frage mich, wann die Politik aus den katastrophalen Fehlern der jüngsten Vergangenheit endlich lernt und begreift, dass man aus Energieträgen wie Kohle und Atom erst aussteigen kann, wenn Ersatz tatsächlich und nicht nur auf dem Papier zur Verfügung steht. Ein privater Hausbesitzer käme ja auch nicht auf die Idee, die alte Ölheizung rauszuwerfen, solange er nicht weiß, ob die neue Wärmepumpenheizung sofort oder erst in einigen Jahren geliefert wird. In der parteipolitischen Realität aber werden zur selben Zeit Braunkohlekraftwerke zusätzlich mobilisiert und der Ausstieg aus Braunkohle mal eben um acht Jahre vorgezogen. Und bei den Atomkraftwerken wird bei der Laufzeitverlängerung um Wochen gefeilscht, obwohl alle wissen, dass der Energiemangel bis 2024 anhalten dürfte. Kein Wunder, dass die klare Mehrheit der Bürger der Politik die Lösung der großen Probleme nicht zutraut!

Herzlich Ihr

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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