hatte ich noch nie auf eine Tafel gestarrt: Es war im Herbst 1999 in Graz, Oswald Egger, Büchner-Preisträger des Jahres 2024, saß auf der Bühne eines Festivals, wie üblich hinter einem Tisch mit Wasserglas, um aus seinem Gedichtband „Herde der Rede (Poem)“ vorzutragen. Hielt inne, nahm einen feinen Pinsel aus der Tasche seines Jacketts, tauchte ihn ins Wasserglas und schrieb auf eine kleine Tafel neben ihm auf dem Tischchen das Wort „Zeit“.
Und während sich das Wasser und damit die Schrift und damit die Zeit verflüchtigte, hörten wir ihm zu. „Jede Nacht, wenn ich Einschlaf suche (und mein Herz wacht), pocht ein Bild an mein Kauern“: So setzt die erste längere Passage des Buchs ein, und so habe ich Oswald Egger damals zugehört und anschließend gelesen – in kürzester Zeit seltsam entrückt, während das Herz wacht.
Fridtjof Küchemann
Redakteur im Feuilleton.
Julia Encke hatte vor zwei Wochen an dieser Stelle über Oswald Egger und Uwe Johnson geschrieben – und Sie zu guter Letzt gefragt, ob Sie mit der Wahl des neuen Büchner-Preisträgers einverstanden sind. Einige Johnson-Fans haben uns daraufhin geschrieben. Und viele, die in der Auszeichnung Oswald Eggers einen Grund sehen, dessen Werk endlich kennenzulernen. Ein Leser verbindet das Eingeständnis, noch keine Zeile dieses Dichters gelesen zu haben, mit dem Kompliment, das Schöne am Feuilleton der F.A.Z. und an diesem Newsletter sei auch, die Grenzen des eigenen literarischen Horizonts vor Augen geführt zu bekommen. Gern geschehen. Passiert mir beim Lesen der Kolleginnen und Kollegen hier auch. Ständig.
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Unsere Empfehlungen: Entzündlich: J.D. Vance schreibt Vorwort zu „Burning Down Washington to Save America“ Durchaus hysterisch: Thomas Manns Empfang zurück in Deutschland vor 75 Jahren Lang erwartet, hart umkämpft: Die Comicserie „Gaston“ wird fortgesetzt
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„Verträumte Aufmerksamkeit“, das ist eine Formulierung, die ich aus den letzten Zeilen von Oswald Eggers „Herde der Rede“ mitnehme, ein ideales Bild für sommerliches Lesen. Ein idealer Ort für sommerliches Lesen: der Strandkorb. „Strandkorb“ ist auch das richtige Lösungswort des Rätsels, das Ihnen Jürgen Kaube an dieser Stelle vor drei Wochen gestellt hat. Wer wissen möchte, aus welchen Antworten auf die zehn einzelnen Fragen des Rätsels es sich ergibt und wer gewonnen hat, findet hier die Antwort.
Im Bücher-Podcast haben wir vor ein paar Wochen Kolleginnen und Kollegen nach ihren Lektüreempfehlungen für die verschiedenen Wetterlagen des Sommers, dieses Sommers gefragt – für mich auch so eine Begegnung mit den Grenzen des eigenen literarischen Horizonts. Was würden Sie empfehlen, liebe Leserin, lieber Leser? Was haben Sie im Gepäck, was hatten Sie mal, was hätten Sie dort gern? Ich bin gespannt auf Ihre Zuschriften
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