Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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5. Mai 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
manchmal kommt es vor, dass ein Wirt eine Schlägerei beginnt, unangemeldete Spüler beschäftigt und außerdem auch noch zu alte Hühnerteile verkauft. Wenn so was passiert, denkt man sich: „Was für ein Depp“, und beschließt, nicht mehr in sein Wirtshaus zu gehen. Das kann schade sein, vor allem dann, wenn man hin und wieder dieses Wirtshaus ganz gern besucht hat.

Bei den Grünen hat man in letzter Zeit einen ähnlichen Eindruck, nur dass sie nicht schlägern, sondern unausgegorene Gesetzesvorschläge machen (die Heizungen ...), der unangemeldete Spüler Trauzeuge eines Staatssekretärs des Allerhöchsten Robert ist, und das alte Hühnerteil Boris Palmer heißt. Es wirkt so, als wolle das kollektive grüne Unbewusste, das Schicksal oder eine nicht bekannte geheimnisvolle Macht anhand der Grünen die Wahrheit eines alten Sprichworts beweisen: Wie gewonnen, so zerronnen.

Jaja, das alles gibt’s bei den anderen auch. In der CSU steht Filz zwischen den Zeilen des Grundsatzprogramms, in der FDP heißt Boris Palmer Wolfgang Kubicki, und in der SPD könnten Olaf Scholz, Rolf Mützenich und Kevin Kühnert die Chefs dreier Unter-SPDs sein, deren nominelle Doppelspitze dann Saskia und Esken wäre. Wenn das alles so weitergeht, wird die nächste Bundesregierung von Kanzler Friedrich Merz geführt, und Boris Pistorius wird sein Vizekanzler. Will man das wirklich?

Nein, eigentlich nicht. Damit das nicht passiert, wäre es dringend nötig, dass die Grünen ein bisschen mehr den Eindruck erweckten, sie seien nicht nur eine hochmoralische Ersatz-SPD mit außenpolitisch entschiedenem Gesichtsausdruck und innenpolitisch kurz geschnittenen Vollbärten. Und von der CSU sollten sie zumindest lernen, etwaige Fehler sofort durch Angriffe auf den politischen Gegner, fast egal, wo der gerade steht, zurückzuweisen. Die CSU zum Beispiel hat es geschafft, zum jeweils geeigneten Zeitpunkt den Eindruck zu erwecken, sie habe kaum etwas mit Andreas Scheuer und überhaupt nichts mit Andrea Tandler zu tun. Wie man es machen kann, wenn man keine Skrupel hat, auf dem Balken im eigenen Auge die schmutzige Wäsche der anderen aufzuhängen, hat der entpromovierte CSU-Generalsekretär Martin Huber gezeigt, der den Rücktritt des „grünen Klüngel-Clans“ forderte.

Wenn ich an das erste Jahr von Rot-Grün in Bonn zurückdenke (jaja, liebe Kinder, der Onkel ist alt genug, um noch in Bonn gewesen zu sein), fällt mir ein, dass die damals kaum regierungserfahrenen Grünen nach dem Abgang des erratischen Schröder-Gegenpols Lafontaine die Regierung nahezu stabilisiert haben. Die Machtpragmatiker Joschka Fischer und Jürgen Trittin, die sich nicht mochten, aber einander nötig hatten, verkörperten einerseits die Gegensätze, die es bei den Grünen gab. Andererseits taten sie und andere (Renate Künast, Rezzo Schlauch etc.) viel dafür, dass das damals sogenannte Projekt überlebte. Es gab Phasen, in denen sich Schröder auf manche Grüne mehr verlassen konnte als auf manche Sozialdemokraten. Die Folge davon war, dass Rot-Grün vom Staatsbürgerschaftsrecht über die Ehen Gleichgeschlechtlicher bis hin zum Dosenpfand vieles aufgebrochen und manches verändert hat in der deutschen Gesellschaft. (Auch wenn Schröder heute so abgedreht ist, darf man daran erinnern.)

Diesmal, bei der zweiten Phase der grünen Regierungsbeteiligung im Bund, sieht es anders aus. Die SPD ist viel schwächer als 1998, und die Grünen sind deutlich stärker, jedenfalls was die Stimmenanteile angeht (SPD 1998 40,9 Prozent, 2021 25,7 Prozent; Grüne 1998 6,7 Prozent, 2021 14,8 Prozent). Die Grünen, könnte man meinen, müssten mit ihrem Anteil jetzt und gemeinsam mit der SPD die Dinge viel mehr steuern, ja gestalten können als 1998. Können sie aber nicht. Das liegt nicht nur daran, dass ein Dritter, die FDP, beteiligt ist. Es liegt auch an der Geschichte mit Wirten, Köchen und Kellnern.

Kanzler Schröder, schon damals so empathisch wie ein nach Brandenburg eingewanderter Wolf, hat gerne von Koch und Kellner gesprochen. Er, Maximum-Gerd, war der Koch; Joschka, damals gertenschlank, der Kellner. Hat die Grünen nicht erfreut, war aber kein ganz schiefes Bild. Die Kellner hielten schließlich das Ding immer wieder mal am Laufen (und sicherten dem Wirt mit knapper Not 2002 eine zweite Amtszeit).

In der Ampelkoalition dagegen versteht sich niemand mehr als Kellner, alle drei haben das Gefühl, sie seien Wirt. Allerdings: Auch wenn es drei Wirte gibt, muss Einigkeit über den Dienstplan und die Speisekarte hergestellt werden. Und irgendwer muss das Zeug auch so servieren, dass viele Gäste zufrieden sind und sogar wiederkommen. Das misslingt im Gasthaus zum Ampelmännchen immer häufiger.

Ja doch, die Pacht für das Gasthaus läuft noch bis Sommer 2025. Bleibt eigentlich noch genug Zeit, das, fast hätte ich geschrieben: Projekt zu stabilisieren. Andererseits: Hat man als Gast erst mal das Gefühl, dass das Wirtshaus nicht mehr so recht taugt (siehe oben), geht man nicht mehr hin. Das Gegenmittel nennt man in der Politik gerne: Man muss „die Leute mitnehmen“. Dazu wollen „die Leute“ aber erst mal wissen, wer einen wohin fahren will.
Kurt Kister
Redakteur
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