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Liebe/r Leser/in,

Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, aber man kann aus ihr lernen. Und daher lohnt es, sich die Ereignisse des Jahres 1962 in Erinnerung zu rufen, die als „Kuba-Krise“ in die Geschichte eingegangen sind. Weithin bekannt ist, dass es damals um sowjetische Raketen ging, genauer: um atomare Mittelstreckenraketen, die Moskaus Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow ab Juli 1962 auf der Karibik-Insel, also im Vorgarten der USA, heimlich errichten ließ. Weniger bekannt ist, dass zuvor im April 1962 US-Raketen in der Türkei – also in unmittelbarer Nähe der Sowjetunion – einsatzbereit gemacht worden waren.

Als US-Spionageflugzeuge die Raketen im Oktober 1962 auf Kuba entdeckten, begannen jene 13 nervenaufreibenden Tage, die die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachten. Die Krise endete bekanntlich mit dem Abzug der sowjetischen Atomraketen von der Karibik-Insel. Weniger bekannt ist, dass Monate später die US-Raketen in der Türkei demontiert wurden. US-Präsident John F. Kennedy hatte dies Chruschtschow über seinen Bruder Robert höchst vertraulich zusichern lassen. Erst danach gab der Russe den Befehl zum Abzug der Raketen von Kuba.

Ich frage mich: Wie viel Chruschtschow steckt in Wladimir Putin? Erkennbar geht es ihm darum, den 1990 mit der deutschen Einheit und der Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der Nato in Gang gekommenen Prozess der Auflösung des russischen Sicherheitsbereichs zu stoppen. Zu diesem Zweck wird von russischer Seite die Lesart verbreitet, der Westen habe nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs zugesagt, auf eine Ausdehnung der Nato nach Osten zu verzichten. Putin wirft dem Westen vor, er habe sein Land „betrogen“. In Wahrheit hat der Kreml 1990 schon im Fall Deutschland anerkannt und unterschrieben, dass jedes Land über seine Zugehörigkeit zu einem Bündnis selbst entscheiden kann. Wenn man aber allen Staaten dieses Recht zubilligt, kann man nicht gleichzeitig vereinbaren, dass dies für ehemalige Warschauer-Pakt-Mitglieder nicht gilt. Offenkundig hat Moskau seinerzeit schlicht nicht mit einer Massenflucht von Ländern aus seiner Einflusssphäre gerechnet: Immerhin 14 ost- und südosteuropäische Staaten traten der Nato bei und bekannten sich zum Westen. Außerdem: Die Sowjetunion stand kurz vor ihrer Auflösung, und Russland war später zu schwach, um diese Entwicklung zu stoppen.

Das weiß Putin selbst. Ihm geht es nach meinem Eindruck auch nicht da­rum, die Nato-Osterweiterung rückgängig zu machen. Sehr ernst nehmen müssen wir aber seine Entschlossenheit, weitere Beitritte und vor allem den der Ukraine zur westlichen Allianz um beinahe jeden Preis zu verhindern. Und damit sind wir bei der bemerkenswerten gemeinsamen Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz und Präsident Putin am Dienstag im Kreml. Der Kanzler sprach mit eleganter Süffisanz aus, was jeder weiß: Weder in seiner noch in Putins Amtszeit werde die Ukraine Mitglied der Nato werden. Mir hat Scholz nicht nur in diesem Augenblick seiner Moskau-Reise gefallen.

Die Lösung der Kuba-Krise war – aus heutiger Sicht – einfacher. Raketenbasen in der Türkei kann man wieder demontieren, dabei geht es nicht um Grundsätze. Die Frage, ob man einem Land wie der Ukraine die Aufnahme verweigern kann, weil dies gegen die (gefühlten) Sicherheitsinteressen Russland verstößt, ist erheblich heikler. Es geht dabei um das Selbstverständnis der Allianz. Anders als Chruschtschow wird sich Putin mit mündlichen Zusicherungen nicht zufriedengeben, wie er Scholz an der Grenze zur Unhöflichkeit klargemacht hat.

Aus Sicht des Russen ist die Sache klar: Sollte die Ukraine auf ihrem Nato-Beitritt weiter bestehen, wird er sie zersetzen oder sogar besetzen. Denn für Putin ist eine in den Westen eingebundene und demokratische Ukraine eine Bedrohung seines Herrschaftssystems. Er hat mit seiner Unterstützung für den belarussischen Diktator Lukaschenko klargemacht, dass er demokratische Bestrebungen in seinem Machtbereich nicht duldet.

Ich bin kein Außenminister, aber ich glaube, dass es eine Lösung nur mit Zustimmung der Ukraine geben kann. Und ich glaube, dass sowohl Putin als auch US-Präsident Joe Biden den Konflikt nutzen, um von innenpolitischen Problemen abzulenken – solange daraus kein Krieg wird. Der machtbewusste Führer im Kreml kann schon jetzt als Krisengewinn verbuchen, dass der Westen ihm zuhört wie schon lange nicht mehr. Biden sollte an Kennedy denken: Der wollte die Kuba-Krise nicht, aber sie hat ihn zu einem der großen Präsidenten der USA gemacht.

Mit vielen Grüßen,

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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