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Liebe/r Leser/in,

„Zeitenwende“ war das „Wort des Jahres“ 2022. Wenn es nach mir ginge, könnte die Gesellschaft für deutsche Sprache für dieses Jahr die Suche einstellen und erneut die „Zeitenwende“ küren. Denn ganz überwiegend ist sie ausgeblieben, selbst bei der Bundeswehr, für die Kanzler Olaf Scholz den Begriff nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr geprägt hatte.

Zwar wurde ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro geschaffen, doch bei den Streitkräften ist bislang wenig angekommen. Heeresinspekteur Alfons Mais diese Woche zum Ausrüstungsstand der Truppe: „Die absolute Blankheit hat zugenommen.“

Mais hatte im vergangenen Jahr Öffentlichkeit und Politik mit dem Satz aufgeschreckt: „Die Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da.“ Nur ein Beispiel: 1994 wusste der damalige Wehrbeauftragte Alfred Biehle zu berichten, dass wegen Munitionsmangels die Soldaten in der Infanteriegefechtsausbildung „peng, peng“ rufen mussten, statt zu schießen. So schlimm ist es heute noch nicht, aber auch drei Jahrzehnte später hat die Bundeswehr immer noch massive Munitionsprobleme. Vom Ziel der stärksten Armee Europas, das der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius ausgegeben hat, sind wir also noch etwas entfernt. Da hilft auch der verstörende Jubelschrei der grünen Bundestags­vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt am Dienstag auf Twitter nichts: „Die Leoparden sind frei.“

Eine Wende ganz anderer Art droht dem Wirtschaftsstandort Deutschland: eine Abwärtswende. Im aktuellen Standort-Länderindex der Familienunternehmen belegt Deutschland den 18. Platz von 21 Rängen. Auf Platz neun, wo wir 2006 noch standen, stehen heute die Niederlande. Nach USA und Kanada auf Platz eins und zwei folgen Schweden, Schweiz und Dänemark. Die Folgen der seit Jahren anhaltenden Verschlechterung unserer Standortfaktoren beschreibt auch die staatliche Förderbank KfW in einer aktuellen Studie: Das schwache Wachstum der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigem (0,3 Prozent im vergangenen Jahrzehnt) sowie der Facharbeitermangel könnten eine Ära schrumpfenden Wohlstands für Deutschland bedeuten.

Ein weiteres Signal für den Abwärts-Alarm: Die Firma Biontech, der Deutschland und die Welt den vielleicht besten Corona-Impfstoff verdanken und deren Gewerbesteuer-Millionen den Haushalt der Stadt Mainz im Alleingang saniert haben, verlagert wichtige Teile der Krebsforschung nach Großbritannien. Weil dort die Behörden mit Unternehmen eng zusammenarbeiten und so neue Arzneien schneller entwickelt werden könnten (die Briten liegen übrigens auf Platz sieben des Standort-Index). Hierzulande werden Unternehmen häufig vor allem mit reichlich Bürokratie gequält. Biontech ist nicht allein: Der Bayer-Konzern will sein Pharma-Geschäft in die USA und nach China auslagern, und die BASF baut in Südchina ein Werk, das Zehntausende Jobs in Ludwigshafen gefährdet.

Es ist mir unbegreiflich, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts in dieser Woche verkünden kann, die Lage sei besser als erwartet. Ich weiß: Deutschland schrammt wahrscheinlich an einer Rezession knapp vorbei, die Gasspeicher sind voll, und die Inflation schwächt sich ab. Aber das sind doch nur Wellenbewegungen, die Grundströmungen aber geben zu großer Sorge Anlass. Der Ökonom Daniel Stelter erinnert daran, dass der Anteil der Industrieproduktion an der Wirtschaftsleistung seit 2015 von 25 auf 19 Prozent gesunken ist, weil die Unternehmen lieber im Ausland als in Deutschland investieren.

Die Gründe dafür sind seit Langem bekannt: zu hohe Steuern und Abgaben, zu hohe Energiepreise, viel zu lange Genehmigungsverfahren, eine sich immer verschlechternde Infrastruktur und massive Rückstände bei der Digitalisierung. Für nichts davon trägt der russische Präsident Putin die Verantwortung, auch wenn viele in der Politik das gerne hätten. Deutschland wird als Investitionsstandort nach unten durchgereicht – mit schwerwiegenden Folgen für uns alle. Selbst im Mittelstand tragen sich viele mit Abwanderungsgedanken, wenn sich nicht bald etwas ändert.

Eine Zeitenwende, die den Namen verdient, fängt in den Köpfen an. So müsste sich Habeck zum Innovations- und Investitionsminister wandeln, der die gewaltige Kraft der internationalen Finanzmärkte für Deutschland mobilisiert, statt im Wesentlichen auf staatliche Not- und Hilfsprogramme zu setzen. Und in wenigen Wochen werden die letzten drei deutschen Atomkraftwerke stillgelegt. Gleichzeitig freut sich der Chef der Bundesnetzagentur, der Grüne Klaus Müller, in internen Sitzungen über jedes Kernkraftwerk, das in Frankreich gerade wieder ans Netz geht. Und der Ausbau der erneuerbaren Energien steht weiter nur auf dem Papier. In der Realität aber kommt er kaum voran. Da brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir auch in zehn Jahren noch ein Standort mit Energie-Höchstpreisen, aber immer weniger Produktion sein werden.

Deutschland hat als Exportnation und Industriestandort viele Jahre von Globalisierung, fetten Absatzmärkten in China und billigem Gas aus Russland gut gelebt. Die anstehende umfassende Transformation des deutschen Geschäftsmodells stellt daher keine geringere Herausforderung dar als der Angriff Russlands auf die Ukraine und damit auf die Nachkriegsordnung. Die bange Frage lautet: Schaffen wir das? Wenn nicht, hat vielleicht „Abwärtswende“ Chancen, in näherer Zukunft zum Wort des Jahres zu werden.

Herzlich Ihr

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Robert Schneider,
Chefredakteur FOCUS-Magazin

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