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Volkswirtschaft
Aktuelles
Fünf wesentliche Punkte
 
1. Der besorgniserregende Anstieg der Coronavirus-Infektionen in Europa und Südkorea sowie die starke Korrektur an den Aktienmärkten in der vergangenen Woche werden auch in der Wirtschaft deutliche Spuren hinterlassen. Wir haben einige unserer Prognosen angepasst, um die zu erwartenden Folgen für die Weltwirtschaft zu berücksichtigen. Wir glauben weiterhin, dass der angerichtete Schaden zwar spürbar aber zeitlich begrenzt sein wird.
2. Wir erwarten, dass die virusbedingten Störungen sowohl die gesamtwirtschaftliche Nachfrage als auch das Angebot in den betroffenen Regionen einschränken und das weltweite Geschäftsklima und Verbrauchervertrauen in den nächsten zwei bis drei Monaten schwer belasten werden. Im Anschluss dürfte das Wachstum langsam zu seinem Trend zurückkehren. Ein Teil der wirtschaftlichen Einbußen, die sich aus den unterbrochenen Lieferketten ergeben, könnte im weiteren Verlauf des Jahres zumindest teilweise wieder aufgeholt werden.
3. Nachdem wir unsere Prognosen für das BIP-Wachstum in der Eurozone im ersten und insbesondere im zweiten Quartal nach unten revidiert haben, erwarten wir für das Gesamtjahr nur noch einen Zuwachs von 0,5 % statt 1 %. Während die Wirtschaft der Eurozone im ersten Halbjahr 2020 in etwa stagnieren dürfte, könnten das stark betroffene Italien und das exportorientierte Deutschland vorübergehend in eine technische Rezession geraten. Wir haben unsere Wachstumsprognose für Großbritannien in diesem Jahr von 1,7 % auf 1,3 % gesenkt. Für die US-Wirtschaft erwarten wir mittlerweile nur noch 1,8 % Wachstum dieses Jahr (2,1 % zuvor).
4. Ein vorübergehender Schock: Unsere grundsätzliche Sicht auf die Weltwirtschaft bleibt unverändert. Die Welt steht nicht vor einer Finanzkrise. Die mögliche Pandemie ist ein schwerer aber vorübergehender Schock für die Realwirtschaft, aber kein Grund für eine Finanzkrise. Da die entwickelte Welt nicht unter gravierenden Exzessen leidet, die eine reinigende Rezession erfordern würden, können sich die Volkswirtschaften erholen, sobald der Coronavirus-Schock nachlässt. Die vorausschauenden Finanzmärkte sollten wie üblich bereits etwas davor nach oben drehen. Trotz der kurzfristigen Abwärtsrisiken sehen wir keinen Grund für eine Panik an den Finanzmärkten.
5. Zentralbanken sind einsatzbereit und haben teilweise bereits reagiert. Sie sind sich der möglichen Belastungsproben für das Finanzsystem bewusst und werden versuchen, etwaige Abwärtsspiralen sofort zu stoppen. Die Fed hat schon geliefert: Sie hat am Dienstag ihren Zins um 50 Basispunkte auf 1-1,25 % gesenkt. Die Bank of England (BoE) wird vermutlich folgen – mit einer Zinssenkung um 25 Basispunkte bei ihrer nächsten Sitzung am 26. März. Die Volkswirtschaften der USA und Großbritanniens reagieren empfindlich auf die Vermögens- und Vertrauenseffekte größerer Schocks an den Aktienmärkten. Obwohl die Eurozone stärker von den direkten Auswirkungen des Virus betroffen ist, reagiert sie weniger empfindlich auf Schocks an den Aktienmärkten als die US-amerikanische oder britische Wirtschaft. Die unerwünschten Nebenwirkungen von negativen Zinssätzen sowie das knappe Angebot an erwerbbaren Anleihen schränken mögliche Handlungsspielräume der Europäischen Zentralbank (EZB) ein. Die EZB hat bislang nur betont, dass sie bereit ist, falls erforderlich, angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Von der EZB erwarten wir nächste Woche, dass sie sich darauf beschränken wird, es den Banken zu erleichtern, gezielt Liquidität für kleinere und mittelgroße Unternehmen bereitzustellen. Wir sehen eine Wahrscheinlichkeit von 40 %, dass sie auch ihren Einlagensatz senkt. Sollte sich die Situation indes (bis dahin) weiter wesentlich verschlechtern und/oder der neuerliche Höhenflug des Euros relativ zum US-Dollar anhalten, könnte die EZB ihren Einlagenzinssatz von -0,5 % auf -0,6 % senken und dabei die Freibeträge großzügiger gestalten, damit das Paket den Bankensektor nicht belastet. Sie könnte sich darüber hinaus dazu entschließen, den Umfang der monatlichen Anleihekäufe hochzufahren und dabei vor allem mehr Unternehmensanleihen erwerben. Im unwahrscheinlichen Extremfall einer tiefen Krise könnte sie sogar dazu übergehen, auch Bankanleihen oder sogar Aktien zu erwerben.
 
Coronavirus endgültig in Europa angekommen
Die nächste Stufe einer potenziellen Pandemie: Die erste leichte Korrektur an den Aktienmärkten in Zusammenhang mit dem Coronavirus endete Anfang Februar, als sich die Rate der täglichen Neuinfektionen in China nach dem Anstieg Ende Januar zu verlangsamen begann. Dass die chinesischen Behörden schließlich konsequent handelten, um die Epidemie zu bekämpfen und den wirtschaftlichen Schaden einzudämmen, zahlte sich dabei aus. In der vergangenen Woche löste der starke Anstieg der Neuinfektionen in Europa und Südkorea dann aber einen weitaus ernsthafteren Ausverkauf aus. Es ist Phase 2 dessen, was sich zu einer echten Pandemie entwickeln könnte.
 
Unserer Ansicht nach werden sich die Märkte und Volkswirtschaften in Europa von dem Einbruch der Aktienkurse weitgehend erholen, wenn die Markt- und Wirtschaftsteilnehmer mit einer Verlangsamung des Anstiegs der Neuinfektionen rechnen. Letztlich dürften die Märkte und Volkswirtschaften nach einer sehr schwankungsanfälligen Zeit wieder allmählich zu ihrem Trend vor Ausbruch des Coronavirus zurückkehren. Aber: Europa befindet sich erst noch im Anfangsstadium des Ausbruchs. Die Märkte werden höchstwahrscheinlich erst eine weitere Reihe schlechter Nachrichten verdauen müssen, bevor sich die Situation langsam bessern kann. Der starke Rückgang des Einkaufsmanagerindizes für das verarbeitende Gewerbe in China im Februar auf ein Rekordtief von 35,7 Punkten (50,0 Punkte im Februar) sowie einem Einbruch der Auftragseingänge auf 29,3 von 51,4 Zählern im Vormonat, könnten Vorboten dafür sein, was in Europa in naher Zukunft an schlechteren Wirtschaftsdaten möglicherweise zu erwarten ist.
 
Europa und die USA sind nicht China
Wir glauben jedoch nicht, dass die Situation in Europa dem in China beobachteten Muster folgt. Die Situation in Europa unterscheidet sich in mindestens fünf Punkten von der in China:
 
1. Kein Wuhan: Europa war von Anfang an in Alarmbereitschaft. In der chinesischen Region Hubei um Wuhan verbreitete sich das Virus zunächst einen Monat lang ohne entschiedene Gegenmaßnahmen, da die Behörden das potenzielle Ausmaß des Risikos noch nicht erkannt hatten. Eine Infektionslawine nach Art von Wuhan, die zu einer umfassenden Abriegelung einer riesigen Region führte, scheint in Europa weniger wahrscheinlich zu sein. Stattdessen könnte das Muster näher an dem anderer, weniger - aber immer noch ernsthaft - betroffener Regionen Chinas liegen, in die das Virus sich später ausgebreitet hatte.
2. Europa ist wohlhabend: Seine Gesundheitssysteme dürften besser als die Chinas funktionieren.
3. Mehr Transparenz: Die Situation im demokratisch regierten Europa ist viel transparenter als in China. Dies stützt das Vertrauen der Wirtschaftsteilnehmer.
4. Weniger drastische Maßnahmen: Die europäischen Demokratien sind weniger geneigt, drastische Maßnahmen wie die vollständige Abriegelung riesiger Regionen zu ergreifen als Chinas Einparteienstaat.
5. Verhaltene Reaktion der Wirtschaftspolitik: Die Geld- und Finanzpolitik wird in Europa weniger entschlossen reagieren als in China. Die Gesundheitsausgaben werden angehoben, die automatischen Stabilisatoren, die in Kontinentaleuropa eine größere Rolle spielen als anderswo, greifen. Sschwer betroffene Länder wie Italien erhalten mehr fiskalischen Spielraum und die Regierungen können vorübergehend gegenüber angeschlagenen Unternehmen und Bürgern Hilfe leisten. Darüber hinaus sind bescheidene Steuerpakete möglich, die über die schrittweise Lockerung der Finanzpolitik hinausgehen, die in Deutschland und vielen anderen Ländern der Eurozone bereits im Gange ist.
 
Mit der früheren Reaktion auf das Problem und mit weit leistungsfähigeren Gesundheitssystemen dürfte der wirtschaftliche Schaden in Europa weitaus geringer bleiben als in China. Dasselbe gilt für die USA. Es besteht jedoch die Gefahr, dass es bei weniger drastischen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie in Europa auch länger dauern könnte als in China, um die Situation in den Griff zu bekommen. Das könnte bedeuten, dass Europa zwar mit einem weit geringeren aber doch länger andauernden Schock konfrontiert wird als mit einem akuten Schlag, der zwar kurzfristig erheblichen Schaden verursacht, dafür aber relativ schnell vorbei ist.
 
Überall auf der Welt werden die Zentralbanken großzügig Liquidität bereitstellen, wenn der starke Ausverkauf an den Aktienmärkten in eine regelrechte Finanzpanik umzuschlagen drohen sollte. Die Fed hat mit ihrer Zinssenkung ein (erstes) Zeichen gesetzt. Die großen Zentralbanken der Welt sind bereits gemeinsam dabei, die globalen Liquiditätsströme auf Anzeichen von drohender Gefahr sowie sich abzeichnender Funktionsstörungen zu überwachen und internationale Swap-Geschäfte zu prüfen. Sie werden sicherstellen, dass die Mittel dort, wo sie benötigt werden, auch zur Verfügung stehen.
 
Bisherige Prognosen
Zum jetzigen Zeitpunkt können wir als Ökonomen nur mögliche Szenarien skizzieren. Als Reaktion auf Phase 1, eine Epidemie, die sich weitgehend auf China konzentriert, haben wir bereits vor zwei Wochen unsere Wachstumsprognosen der Eurozone im ersten Quartal 2020 von 0,2 % auf 0,1 % gegenüber Vorquartal reduziert und einige unserer anderen Prognosen entsprechend angepasst. Dieses Szenario beruhte auf der Annahme, dass nach den schwachen Daten für Februar und insbesondere für März die europäische Produktion ab April wieder steigen würde. Einige Einbußen im Verkehrssektor, der Tourismusindustrie und ähnlichen Bereichen in Europa würden anschließend zwar nicht wieder ausgeglichen werden können. Die meisten anderen Einbußen aus der vorübergehenden Unterbrechung der Lieferketten mit China könnten jedoch später wieder ausgeglichen werden. Infolgedessen könnte das jährliche BIP-Wachstum im Jahr 2020 immer noch 1,0 % für die Eurozone und 1,7 % für Großbritannien betragen. Die scheinbare Stabilisierung der Zahl der Neuinfektionen in China in den letzten zwei Wochen und die Wiedereröffnung einiger Produktionsstätten stützten diese Ansicht - bis sich das Virus vor etwa zehn Tagen in Europa dann doch ernsthaft auszubreiten begann.
 
Neue Prognose: Ernsthafte Schäden durch das Virus in Europa
Zusätzlich zu den überwiegend durch den Ausbruch in China bedingten ökonomischen Schäden, die bereits in unserer früheren Prognose-Revision berücksichtigt wurden, gehen wir nun davon aus, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion (monatliches BIP) in der Eurozone im März um ca. 1 % im Monatsvergleich sinkt, anstatt nur um 0,5 %, wie wir zuvor angenommen hatten. Die gesamtwirtschaftliche Produktion verbleibt dann im April auf niedrigem Niveau, erholt sich aber ab Mai. Von Juli bis September liegt die Produktion dann leicht über der des Basisszenarios, da die Unternehmen im Laufe der Zeit allmählich rund ein Drittel der vorherigen Einbußen wieder wettmachen dürften. Diese angepassten Annahmen reduzieren unsere Wachstumsprognose für die Eurozone von 0,1 % auf 0,0 % gegenüber dem Vorquartal für das erste Quartal und von 0,4 % auf -0,15 % für das zweite Quartal, während wir die Vorhersagen für das dritte und vierte Quartal von 0,4 % auf 0,5 % (qoq) etwas angehoben haben. Diese Änderungen senken das von uns prognostizierte jährliche BIP-Wachstum im Jahr 2020 insgesamt von vorher 1,0 % auf nun 0,5 % ab. Für Großbritannien gilt analog: Mit einem etwas weniger ausgeprägten Rückschlag als in der Eurozone dürfte am Ende des Jahres immerhin noch ein solides Plus von 1,3 % in Aussicht stehen (vorher: 1,7 %). Unsere Vorhersagen für 2021 lassen wir aber zunächst unverändert.
 
Ein Risikoszenario für Europa aus pessimistischer Perspektive
Die Risiken für unsere neuen Prognosen sind in beiden Fällen viel ausgeprägter als üblich. Als Ökonomen können wir die Ausbreitung des Virus nicht vorhersagen. Inwieweit Haushalte und Unternehmen in Panik geraten könnten, lässt sich ebenfalls nur schwer prognostizieren. Für eine Weile kann der Angstfaktor genauso viel wirtschaftlichen Schaden anrichten wie das Virus selbst und umgekehrt. Wenn weitestgehend Besonnenheit herrscht und sich die Ausbreitung des Virus innerhalb von vier Wochen eindämmen lässt, kann der Schaden weniger schwerwiegend sein, als wir momentan erwarten.
 
Wenn sich das Virus jedoch viel schneller und umfassender in Europa ausbreitet, als die jüngsten Daten für die chinesischen Regionen außerhalb von Hubei vermuten lassen, könnte der Schaden sogar noch erheblich grösser ausfallen. In gleicher Weise könnte eine sich selbst verstärkende Vertrauenskrise oder sogar Panik einen ähnlichen negativen Effekt haben. Wenn die Gesamtproduktion der Eurozone im März um 1,5 % und im April um weitere 1 % fällt, dann im Mai auf diesem Niveau bleibt und sich erst ab Juni allmählich erholt, gefolgt von einem nur 25-prozentigen Aufholeffekt im zweiten Halbjahr, würde die Eurozone in der ersten Hälfte des Jahres 2020 eine Rezession erleiden. Das BIP würde im ersten Quartal um 0,15 % (qoq) und im zweiten Quartal um etwa 1,5 % (qoq) zurückgehen, gefolgt von einer Erholung im dritten und vierten Quartal. Für das Gesamtjahr 2020 würde das BIP um 0,5 % zurückgehen. In solch einem Risikoszenario müssen wir möglicherweise genauer beobachten, ob die Anleihenmärkte trotz der EZB-Käufe, die gegebenenfalls verstärkt werden könnten, das Vertrauen in Italien verlieren. Mit der ungesunden Kombination aus erhöhter Staatsverschuldung (135 % des BIP Ende 2019) und einem Trendwachstum von höchstens 0,5 % pro Jahr bleibt Italien anfällig für Vertrauenskrisen. Eine schwere Rezession könnte dieses Risiko möglicherweise noch verschärfen. Bislang scheint die Gefahr, dass es zu solch einer Krise kommen könnte, recht gering zu sein. Ganz ausschließen könnten wir es bei einem ungünstigen Verlauf der Krise allerdings nicht.
 
Dr. Holger Schmieding
+44 7771 920377
holger. schmieding@ berenberg. com
 
Dr. Florian Hense
+44 20 3207 7859
florian. hense@ berenberg. com
 
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